Theaterregisseur Alvis Hermanis und das Neue Theater Riga haben seit den 1990er Jahren die gesamte Theaterszene in Lettland stark geprägt. Die innovativen Aufführungen des Neuen Theaters haben ZuschauerInnen mit neuen Schauspielformen bekannt gemacht, und die außergewöhnlichen Arbeitsmethoden von Hermanis sind auch von anderen lettischen RegisseurInnen übernommen und verfeinert worden. Alvis Hermanis sucht in seinen Aufführungen im Neuen Theater nach der lettischen Identität im 21. Jahrhundert und enthüllt dadurch Geschichten seiner ZeitgenossInnen und belebt Traditionen. Alvis Hermanis und das Neue Theater Riga sind die international bekanntesten Namen in der ganzen Theatergeschichte Lettlands.
Seine ersten Erfahrungen auf der Bühne hat Hermanis im Ensemble „Pantomime Riga“ von Roberts Ligers (1931–2013) gemacht. Dieses Ensemble ist auch Teil des Lettischen Kulturkanons, genauso wie die psychoanalytische Methode der Regisseurin Māra Ķimele (1943), die einst Hermanis unterrichtet hat. Er hat auch in mehreren Aufführungen von Ķimele als Schauspieler agiert.
Das Neue Theater Riga wurde 1992 gegründet. Ursprünglich war der Regisseur Juris Rijnieks (Jahrgang 1958) der künstlerische Leiter des Theaters, aber schon 1993 fing der Regisseur Alvis Hermanis mit seinen innovativen Aufführungen an. 1997 wurde er zum künstlerischen Leiter und sammelte eine neue Truppe. In den Aufführungen der 1990er Jahre hat Hermanis durch Stilisieren und Synthese von Kulturmerkmalen unterschiedlicher Epochen mit verschiedenen originellen, zum Teil provokativen Ideen gespielt. Die Aufführungen wurden zwar von Fachleuten geschätzt, gleichzeitig aber auch wegen intellektueller Arroganz und postmoderner Ironie kritisiert.
Die Liebe des Publikums erwarb Hermanis im Jahre 1997, als er der künstlerische Leiter des Theaters wurde. Er führte das Drama des sowjetischen Autors Alexei Arbusow „Mein armer Marat“ mit Berücksichtigung von allen psychologischen Nuancen auf. Im Mittelpunkt des Stücks stand eine Dreiecksbeziehung in Russland während des Zweiten Weltkrieges und der Jahre danach. Das Stück wurde 14 Jahre lang gespielt, und während dieser Zeit sind die SchauspielerInnen Baiba Broka (Jahrgang 1973), Andris Keišs (Jahrgang 1974) und Vilis Daudziņš (Jahrgang 1970) von jungen, talentierten Anfängern zu erfahrenen Meistern des Theaters geworden. Das Theater selbst und sein Regisseur erlangten Kultstatus und auch Anerkennung und Erfolg außerhalb Lettlands.
Hermanis‘ erste Aufführung im Neuen Theater Riga, die internationale Anerkennung fand, war Nikolai Gogols „Der Revisor“ (Revidents, 2002 aufgeführt). Die Handlung wurde von einem russischen Gouvernement des 19. Jahrhunderts auf eine sowjetische Kantine übertragen. Teil der grotesken Aufführung waren SchauspielerInnen in verdickenden Mänteln, die die körperliche und seelische Untüchtigkeit der Figuren symbolisierten. Die SchauspielerInnen selbst kreierten durch Geschirrgeklapper eine beeindruckende rhythmische Atmosphäre, die durch einen starken Geruch von Rostzwiebeln und die Präsenz von lebenden Hühnern auch humoristisch verstärkt wurde.
Mit dem Stück „Das lange Leben“ (Garā dzīve, 2003) erlebte das Theater eine wesentliche Kehrtwende im Arbeitsstil und der Ästhetik der Aufführungen. Hermanis erklärte, dass es mehr Drama im Leben jedes einfachen Menschen in Lettland gibt als in dem Gesamtwerk von William Shakespeare. Künftig wurden Aufführungen in Kooperation mit den SchauspielerInnen inszeniert, die an der Erforschung und Dramatisierung teilnahmen. „Das lange Leben“ gab einen Einblick in den Alltag von sehr alten Einwohnern einer sowjetischen Kommunalwohnung. Die 30-jährigen Baiba Broka, Guna Zariņa (1972), Vilis Daudziņš, Ģirts Krūmiņš (1965) und Kaspars Znotiņš (1975) konnten überraschend präzise und berührend die psychologischen und physischen Merkmale älterer Leute nachahmen. Außerdem gab es in der Aufführung keine Dialoge – die Beziehungen zwischen den Figuren konnten jedoch klar an den Gesten und Mimik der Schauspieler abgelesen werden.
Diese neue Erzählform wurde auch in der Aufführung „Lettische Geschichten“ (Latviešu stāsti, 2004) benutzt. Im Rahmen dieses Projekts trafen sich die SchauspielerInnen mit verschiedenen Einwohnern, um ihren Alltag und ihr Schicksal kennen zu lernen und dann auf die Bühne des Neuen Theaters zu bringen. Menschenforschung war der Kern anderer Aufführungen wie „Lettische Liebe“ (Latviešu mīlestība, 2006), „The Sound of Silence“ (Klusuma skaņas, 2007), „Marta von Zilaiskalns“ (Zilākalna Marta, 2009), „Friedhofgedenktag“ (Kapusvētki, 2010) und „Die schwarze Milch“ (Melnais piens, 2010). In mehreren Aufführungen hat Hermanis das lettische Kulturerbe benutzt. Im Stück „Weiter“ (Tālāk, 2004) wurde der Gürtel von Lielvārde interpretiert; das Stück „Friedhofgedenktag“ (2010) interpretierte die Tradition, mit der Familie den Friedhof zu besuchen und der Vorfahren zu gedenken. Die Aufführung „Ziedonis und das Universum“ (Ziedonis un Visums, 2010) ist dem in den Kulturkanon aufgenommen Dichter Imants Ziedonis (1933–2013) gewidmet. Er wurde meisterhaft durch den Schauspieler Kaspars Znotiņš verkörperlicht. Die Werke, die aus dieser Periode stammen, gelten als wichtiger Beitrag zum Studium und der Bekanntmachung der Identität und der Werte der lettischen Gesellschaft.
Zudem hat sich Alvis Hermanis auch den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts gewidmet, z. B. in der Aufführung des Romans „Das Eis“ von Wladimir Sorokin „Das Eis. Gemeinsame Lektüre eines Buches mithilfe der Phantasie in Riga“ (Ledus. Kolektīva grāmatas lasīšanas ar iztēles palīdzību Rīgā, 2005) und der Aufführung von Tatjana Tolstajas Erzählung „Sonja“ (2007). Durch die Theaterstücke „Oblomow“ (Oblomovs, 2011), „Onegin. Kommentare“ (Oņegins. Komentāri, 2012), „Brodsky/Baryschnikov“ (Brodskis/Barišņikovs, 2015), „Unterwerfung“ (Pakļaušanās, nach Michel Houellebecqs Roman, 2016) wirft Hermanis die Frage der Resignation westlicher Gesellschaft und Kultur auf.
Alvis Hermanis und seine Aufführungen im Neuen Theater Riga haben zahlreiche Auszeichnungen in Lettland und im Ausland erhalten, darunter auch den auf Initiative der Europäischen Kommission verliehenen Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten (2007). Seit 2005 hat Hermanis zahlreiche Theater- und Opernaufführungen in Deutschland, Russland, der Schweiz, Italien, Österreich, Belgien und Frankreich inszeniert.
In Lettland hat er nur eine Oper aufgeführt, und zwar die in den Kulturkanon aufgenommene Oper „Feuer und Nacht“ (Uguns un nakts) von Jānis Mediņš, die 1994 postmodern interpretiert wurde.
Das Gebäude des Neuen Theaters Riga ist der Schauplatz vieler legendärer Theaterereignisse geworden – der in den Kulturkanon aufgenommenen Aufführung von Rainis' „Feuer und Nakts“ (Regisseur Aleksis Mierlauks, 1911), des Daile-Theaters von Eduards Smiļģis, des poetischen Theaters von Pēteris Pētersons, des Jugendtheaters von Ādolfs Šapiro und der Aufführung von Henrik Ibsens „Brand“ (Regisseur Arnolds Liniņš, 1975). Die Geschichte des Gebäudes wird auch beim umfangreichen Umbau des Theaterkomplexes respektiert – das große, expressive Fotoporträt von Eduards Smiļģis an der Wand soll erhalten bleiben und es wird geplant, einen Saal nach ihm zu benennen.
Alvis Hermanis gilt als einer der führenden MeinungsbildnerInnen in Lettland. In Umfragen des Online-Magazins „Satori“ wurde er 2013 und 2016 als solcher anerkannt.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka