„Feuer und Nacht“ (1905) ist eines der hervorragendsten Stücke von Rainis (1865–1929), dem lettischen Dichter, Dramatiker und Politiker. Als herausragendes Beispiel des lettischen Symbolismus wurde es in den Kulturkanon aufgenommen. Die Handlung des Werkes stützt sich auf das Epos „Der Bärentöter“ (1888) von Andrejs Pumpurs (1841–1902), in dem der Sohn einer Bärin gegen den Schwarzen Ritter kämpft. Rainis selbst hat das Stück „ein altes Lied in neuem Klang“ genannt und sowohl volkskundliche und mythische Motive und die Geschichte des 13. Jahrhunderts als auch die damals aktuellen Ereignisse der Russischen Revolution von 1905 benutzt. Der Titel „Feuer und Nacht“ deutet darauf hin, dass das Stück über den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen erzählt. Die Protagonisten sind der Bärentöter, Laimdota (Symbol Lettlands), Koknesis und die lettischen Häuptlinge; die Antagonisten hingegen sind der Schwarze Ritter und die Volksbetrüger Kangars und Krummütze (Līkcepure). Das Schönheitssymbol Spīdola verkörpert die Idee des stetigen Wandels und ist die einzige Figur, die sich von einer dunklen Kraft zur Hauptvertrauten des Bärentöters entwickelt. Im fünften Akt sagt Spīdola zu ihm: „Wandle und wandle dich selbst.“
Rainis lebte zur Zeit der Uraufführung in der Schweiz im Exil, war aber ein wichtiger Ratgeber im Vorbereitungsprozess. Am Anfang war Jēkabs Duburs (1866–1916) mit der Regie der Aufführung beauftragt, Rainis war jedoch mit dem melodramatischen Konzept des Regisseurs nicht zufrieden und akzeptierte eine solche Aufführung nicht. Deshalb übernahm der Schauspieler, Regisseur und damaliger Leiter des Neuen Theaters Riga Aleksis Mierlauks (bürgerlicher Name: Aleksis Frīdfelds) den Posten. Mehrmals besuchte er Rainis in Castagnola, um seine Vorschläge aufzunehmen. Rainis übte auch Einfluss auf die Aufführung in Briefform, indem er dem Regisseur, dem Bühnenbildner Jānis Kuga (1878–1969), der Darstellerin von Laimdota Biruta Skujeniece, (1888–1931) und anderen Mitarbeitern des Neuen Theaters Riga schrieb.
Besondere Aufmerksamkeit widmete er den Dekorationen. Das Bühnenbild war sehr reichhaltig und bestand aus ethnographischen und phantastischen Motiven sowie europäischem Prunk und Naturelementen, z. B. der Steilküste von Daugava. Der Bühnenbildner Jānis Kuga beschäftigte sich gründlich mit der lettischen Ethnographie – den Mustern, den Trachten, der Bauernarchitektur. Die Dekorationen von „Feuer und Nacht“ waren sehr beeindruckend und die Ersten im lettischen Theater, die nicht von einer anderen Aufführung übernommen und einfach angepasst waren. Sie waren nicht nur Teil des Stücks, sondern ein selbständiges Kunstwerk.
Nikolajs Alunāns (1859–1919) schrieb die Musik und Mārtiņš Kauliņš (1864–1928) studierte die Tänze ein. Der Bärentöter wurde zuerst vom damals unerfahrenen Schauspieler und späteren Opernsänger Ādolfs Kaktiņš (1885–1965) dargestellt. 1912 wurde er durch Eduards Smiļģis (1886–1966) ersetzt, der später das Daile-Theater gründete und zu einem der wichtigsten Regisseure des lettischen Theaters wurde. Laimdota wurde von Biruta Skujeniece und Mirdza Šmithene (1887–1978) dargestellt, Spīdola – von Tija Banga (1882–1957), Lilija Ērika (1890–1981) und später auch Otīlija Muceniece (1871–1951). Regisseur Mierlauks selbst stellte Kangars dar. Die ausdrucksvollen Figuren wurden später zu Ikonen, mit denen die SchauspielerInnen in späteren Aufführungen rechnen mussten.
Die Aufführung weckte ein großes Interesse und lockte ZuschauerInnen aus ganz Lettland an. Zwei Wochen nach der Uraufführung spielte das Neue Theater Riga sechsmal pro Woche nur „Feuer und Nacht“. Bis Saisonende wurde die Aufführung 44-mal gezeigt und stets ausverkauft. Am 15. April 1914 fand die hundertste Vorstellung von „Feuer und Nacht“ – ein besonderes Ereignis in der lettischen Theatergeschichte statt.
Die Romanow-Straße, wo sich das Neue Theater Riga befand, wurde der legendären Aufführung von 1911 zum Ehren in Lāčplēša-Straße umbenannt. Dasselbe Gebäude ist mit weiteren fünf im Kulturkanon aufgenommenen Kulturwerten verbunden: dem Daile-Theater von Eduards Smiļģis, dem Jugendtheater von Ādolfs Šapiro, dem Poesietheater von Pēteris Pētersons, dem Neuen Theater Riga von Alvis Hermanis und auch der Aufführung von Henriks Ibsens „Brand“ in der Regie von Arnolds Liniņš.
Nach 1911 wurde „Feuer und Nacht“ weitere neun Male in den lettischen Theatern aufgeführt. Die neueste Version wurde am 11. September 2015, am 150. Geburtstag von Rainis, uraufgeführt. Die zeitgenössische Aufführung von Viesturs Kairišs (Jahrgang 1971) wurde von ZuschauerInnen und KritikerInnen gelobt.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka