Der Regisseur Eduards Smiļģis ist ein hervorragender Innovator der lettischen Bühnenkunst. Das von ihm 1920 gegründete Daile-Theater verfolgte eine neue Richtung und war das Zentrum der modernen Strömungen des 20. Jahrhunderts, besonders des Symbolismus und Expressionismus. Mit seinen Gleichgesinnten schuf er ein neues Theatermodell mit innovativer Bühnenausstattung und Dekorationen. Von großer Bedeutung waren auch die Rede und die Bewegungen der SchauspielerInnen sowie die Beleuchtung und die Musik. Trotz der wechselnden politischen Regime, darunter der sowjetischen Besatzung und ihr folgenden Forderung nach dem sozialistischen Realismus, konnte Eduards Smiļģis die ästhetischen Prinzipien des Daile-Theaters bewahren. Neben der im lettischen Theater traditionellen realistisch-psychologischen Methode entwickelte Smiļģis eine starke Schauspielschule. Damit überschreitet der Einfluss des Daile-Theaters die Grenzen eines einzigen Theaters und mehrerer Jahrzehnte.
Eduards Smiļģis war eine charismatische, legendäre Persönlichkeit und konnte mit seinen Ideen viele AnhängerInnen begeistern. Er machte eine Ausbildung nicht zum Regisseur, sondern zum Ingenieur, aber er war mit dem Theater schon seit dem Ersten Weltkrieg verbunden, als er an verschiedenen Theatern in Riga als Schauspieler tätig war. Nach dem Exil in Russland und der Rückkehr nach Riga gründete er im Gebäude des ehemaligen Neuen Theaters Riga (Romanova-, heute Lāčplēša-Straße 25, wo sich heute das jetzige Neue Theater befindet) das Daile-Theater, das der in Lettland dominierenden realistischen Ästhetik entgegenwirkte. Das Hauptprinzip des Realismus ist der Versuch, das Leben möglichst objektiv darzustellen und hauptsächlich über den Alltag und das Typische zu erzählen. Aber die sehr unterschiedlichen Ausrichtungen des Modernismus (darunter Symbolismus, Expressionismus, Impressionismus, Futurismus) entstanden als Gegensatz zum Realismus und betonten die Subjektivität und die Mehrdeutigkeit der Welt. In der Arbeit des Daile-Theaters von Eduards Smiļģis sind Merkmale des Symbolismus und Expressionismus am deutlichsten zu erkennen. Der Symbolismus legt Wert nicht auf die logische, sondern auf die intuitive Erkundung der Welt und strebt danach, mithilfe von Symbolen die den alltäglichen Erfahrungen unzugängliche Ideenwelt zu offenbaren. Die expressionistische Kunst widerspiegelt hingegen die Gefühle des Menschen (besonders die negativen) und deformiert in grotesker Form zum Zweck emotionellen Effektes die Realität.
Die Mitbegründer des Daile-Theater waren der Bühnenbildner, Regisseur und Theatertheoretiker Jānis Muncis (1886–1955), die Choreographin Felicita Ertnere (1891–1975) und der Komponist Burhards Sosārs (1890–1953). Auch Rainis beteiligte sich an der Gründung des Theaters. Das Daile-Theater befolgte mehrere Richtlinien. Es vermied die Auseinandersetzung mit den Problemen von damals. Den Großteil des Repertoires bildeten zeitübergreifende Stücke mit hohem künstlerischen Wert, z. B. die Werke von William Shakespeare, Friedrich Schiller und Rainis. Es wurden aber auch musikalische Werke und Komödien aufgeführt. Der Text wurde oft gestrichen oder ergänzt, so dass die Ideen des Regisseurs mehr Gewicht hatten als die literarischen Ideen des Dramatikers.
Im Daile-Theater wurde die Bedeutung des Regisseurs sehr erhöht. Er wurde zum alleinigen Autoren der Gesamtaufführung, der alle theatralische Elemente von SchauspielerInnen bis zum Bühnenbild, Kostümen und Musik zusammenschmelzen sollte. Die SchauspielerInnen, ihre Stimme und rhythmischen Bewegungen in Zeit und Raum bildeten den Hauptbestandteil der Gesamtaufführung, der durch die restlichen theatralischen Elemente akzentuiert wurde. Deshalb achtete Eduards Smiļģis sehr auf die Bildung seiner SchauspielerInnen, besonders die technische Vorbereitung. Von der Gründung des Theaters bis 1965 bildete er selbst drei Truppen aus. Zu den hervorragendsten SchauspielerInnen des Daile-Theaters zählten viele berühmte Persönlichkeiten, darunter Artūrs Filipsons (1906–1950), Alma Ābele (1907–1984), Lilita Bērziņa (1903–1983), Gustavs Žibalts (1873–1938), Luijs Šmits (1907–1985), Harijs Liepiņš (1927–1998), Vija Artmane (1929–2008) und Eduards Pāvuls (1929–2006). Neben seiner Regie- und Leitungstätigkeit wirkte Eduards Smiļģis auch als Hauptdarsteller, z. B. Peer Gynt, Gösta Berling, Othello und Dr. Faust.
Obwohl Eduards Smiļģis schon vor mehr als 50 Jahren gestorben ist, ist sein Einfluss auf das lettische Theater immerhin spürbar. Auf dem Gebäude des jetzigen Neuen Theaters Riga an der Lāčplēša-Straße sind ein Fotoporträt von Smiļģis (Autor Gunārs Binde) und die Aufschrift „Smiļģa māja“ (Haus von Smiļģis) zu sehen. Im Gebäude befindet sich auch heutzutage das Kabinett von Smiļģis, das auch während des zurzeit ablaufenden Umbaus beibehalten werden soll. Erstaunlicherweise sind mit diesem Gebäude fünf andere Werte des Kulturkanons verbunden: das Jugendtheater von Ādolfs Šapiro, das poetische Theater von Pēteris Pētersons, das Neue Theater Riga von Alvis Hermanis sowie die Aufführungen von Rainis‘ „Feuer und Nacht“ und Henrik Ibsens „Brand“.
Eine Straße am linken Ufer von Daugava ist nach Smiļģis benannt worden. Im Haus an dieser Straße, wo er wohnte, befindet sich seit 1976 das Theatermuseum. Jedes Jahr wird am 23. November, dem Geburtstag von Smiļģis, die „Spēlmaņu nakts“ (Nacht der Spielmänner) gefeiert, in der Preise für die besten Errungenschaften der abgeschlossenen Saison verliehen werden.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka