Nach Absolvierung des Studiums der Theaterregie am Theaterinstitut seiner Heimatstadt Charkiw (Ukraine) begann Shapiro 1962 seine Tätigkeit in Riga am Staatlichen Jugendtheater des Lenin Komsomols der Lettischen SSR (Ļeņina komjaunatnes Latvijas PSR Valsts Jaunatnes teātris), dessen Chefregisseur er von 1964 bis zur Auflösung des Theaters im Jahre 1992 war, wobei er beide Truppen des Hauses leitete – sowohl die lettisch- als auch die russischsprachige.
Bereits mit seinen ersten Inszenierungen in Riga realisierte Adolf Shapiro eine wohlüberlegte und vielseitige Repertoirepolitik. Durch die Arbeit mit Klassikern der Weltliteratur wie Anton Tschechow, Henrik Ibsen, Maxim Gorki, Alexander Ostrowski oder Bertolt Brecht gab er den Ensemblemitgliedern des Jaunatnes teātris Gelegenheit, ihre Schauspielkunst in verschiedenen Genres bis zur Meisterschaft zu entwickeln.
Eine zentrale Linie in Shapiros kreativer Biographie ist die Inszenierung von Werken lettischer Dramatiker. Als Ausländer offerierte er neue Perspektiven sowohl auf Stücke von Klassikern wie Rainis (1865–1929) als auch seiner Zeitgenossen Gunārs Priede (1928–2000), Pauls Putniņš (1937–2018) oder Māra Zālīte (*1952). Interessant war sein inszenatorisches Spielen mit den Genres der jeweiligen Stücke, indem er beispielsweise Rainis‘ Sonnenwendmärchen „Zelta zirgs“ (erschienen in der deutschen Übersetzung des Autors unter dem Titel „Das goldene Ross“ 1922 in Riga) als ein Ideendrama für Erwachsene interpretierte – und Gunārs Priedes Dramen als Komödien.
In der lettischsprachigen Truppe arbeitete Shapiro am engsten mit Schauspielern wie Lūcija Baumane (1905–1988), Dina Kuple (1930–2010), Edgars Liepiņš 1929–1995) oder Anda Zaice (* 1941) sowie dem ebenfalls in den Lettischen Kulturkanon aufgenommenen Uldis Pūcītis (1937–2000) zusammen. Prägnant und überraschend reüssierten in Shapiros Inszenierungen die vor allem aus Kindertheatervorstellungen bekannten Schauspielerinnen Vera Singajevska (1923–2014) und Velta Skurstene (* 1930). Gemeinsam mit der Schauspielerin Lūcija Baumane leitete Shapiro auch zwei Schauspielschülerjahrgänge, die 1974 bzw. 1985 ihre Abschlüsse machten.
Die Schauspieler des Jugendtheater stellte Adolf Shapiro vor verschiedene Herausforderungen. So besetzte er 1976 in der Inszenierung von Rainis‘ „Das goldene Ross“ die Hauptrolle des Antiņš mit der Schauspielerin Anda Zaice. Auch bei der Inszenierung von Pauls Putniņš‘ Stück „Das Fest des Wartens“ (Gaidīšanas svētki) entschied der Regisseur sich für eine ungewöhnliche Besetzung, indem er den älteren Schauspielern des Hauses die Kinderrollen anvertraute, die sie einst in ihrer Jugend gespielt hatten; die alten Protagonisten hingegen wurden von jungen Ensemblemitgliedern verkörpert. Dieser Kunstgriff erzeugte in der Inszenierung eine neue Bedeutungsebene und Bildlichkeit. Eine weitere Herausforderung für die Schauspieler in den Inszenierungen Shapiros war eine große Wandlungsfähigkeit, um sowohl in psychologischen Stücken als auch in der Stilistik des Spieltheaters – unter Verwendung von clownesken Elementen und solchen der Publizistik – gleichermaßen überzeugend zu agieren.
Unter den herrschenden Verhältnissen der sowjetischen Okkupation beleuchtete Adolf Shapiro ganz zu Beginn der sogenannten „Singenden Revolution“ mit seinen Inszenierungen von Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ (1985), Gunārs Priedes „Die schneebedeckten Berge“ (Sniegotie kalni, 1986) und „Morgen war Krieg“ (1986) nach Boris Wassiljews gleichnamigem Roman (Завтра была война) auf ungewöhnlich offene und kritische Weise soziale Mythen.
Bei der Herausarbeitung der Bildlichkeit der Inszenierungen Adolf Shapiros spielte die Zusammenarbeit des Regisseurs mit herausragenden Bühnenbildnern wie Ilmārs Blumbergs (1943–2016), Andris Freibergs (* 1938) oder Marts Kitajevs (1925–2020) eine wesentliche Rolle.
Auf Adolf Shapiros Initiative entstanden am Jaunatnes teātris auch zwei Inszenierungen des in den Lettischen Kulturkanon aufgenommenen Poesietheaters des Dramatikers und Regisseurs Pēteris Pētersons (1923–1998): die ebenfalls im Kulturkanon vertretene Inszenierung „Spiele, Spielmann!“ (Spēlē, Spēlmani!, 1972) mit Texten von Aleksandrs Čaks und „Mysterium über den Menschen“ (Mistērija par Cilvēku, 1974) mit Texten von Wladimir Majakowski.
Nachdem Shapiro bereits beim Festival Baltijas teātru pavasaris (Baltischer Theaterfrühling) mit seiner Inszenierung von Maxim Gorkis „Die Letzten“ (1967) die Anerkennung der Jury / von Kritikern / von Theaterfachleuten geerntet hatte, erwarb sich sein Jaunatnes teātris in den 1980er Jahren zunehmend auch internationalen Ruf. In der „Geschichte des lettischen sowjetischen Theaters“ (Latviešu padomju teātra vēsture, 2 Bde. Riga: Zinātne, 1973) schreibt die Film- und Theaterwissenschaftlerin Valentīna Freimane: „[…] die zeitgemäße Lesart des Stücks von dem Begründer des sozialistischen Realismus weckte auch außerhalb der Grenzen unserer Republik ein breites Interesse am JT und dessen Chefregisseur Shapiro.“ (Bd. 2, S. 246)
Nach der Liquidierung des Jaunatnes teātris verlegte Adolf Shapiro seinen Lebensmittelpunkt nach Moskau. Seitdem ist er sowohl in Rußland als auch in anderen Ländern tätig, wo er u. a. Opern inszeniert und Meisterklassen gibt. In Lettland, wo er seit 1992 nicht mehr inszeniert hat, wurde Shapiro 2011 mit dem Spēlmaņu nakts-Preis für sein Lebenswerk sowie mit dem Drei-Sterne-Orden (Triju Zvaigžņu ordenis) geehrt.
Matthias Knoll