Die 1970er und 1980er Jahre kann man gewiss als die Periode der Glanzleistung der lettischen Plakatkunst bezeichnen, denn sie entkoppelte sich von ihrer ideologischen Vorbestimmtheit als Propagandainstrument oder ein anderweitiges Volksaufklärungswerkzeug. In dieser Zeit behauptete sich die Plakatkunst als eine eigenständige Kunst des graphischen Designs. Ganz besonders bezeichnend ist für den gegenständlichen Zeitraum die Parallelität des Wirkens von unterschiedlichen Künstlergenerationen. Zu den prominentesten Namen dieser Periode zählen die Künstler Juris Dimiters (1947), Ilmārs Blumbergs (1943–2016), Gunārs Kirke (1926–1993), Laimonis Šēnbergs (1947), Georgs Smelters (1942–2014) und andere.
Ohne einen Kontext über die Bedeutung des „Manege-Scandals“ aus dem Jahr 1962 in Moskau lassen sich die späteren Entwicklungen der Kunstszene der sowjetischen Periode kaum erklären. Die Machtübernahme durch Chruschtschow weckte ähnlich wie bei der Gesamtbevölkerung auch bei den Kunstschaffenden große Hoffnungen auf eine Liberalisierung der Propaganda- und Zensurzwänge. Dies wurde von den vier größeren in Moskau ausgetragenen Ausstellungen vorwiegend abstrakter Gegenwartskunst aus dem Westen (Picasso in 1956, Polen – 1958, USA – 159, Frankreich – 1961) stark beeinflusst. Diese begründeten für zahlreiche Adaptionen der aktuellen künstlerischen Strömungen, die sich in als sozialistischer Realismus deklarierten Werken erkennbar machen.
In diesem Geiste liefen ebenfalls Vorbereitungen im Hinblick auf die für 1962 angesetzte große Moskauer Kunstausstellung. Diese stieß jedoch auf klare Ablehnung bei der Führung der kommunistischen Partei insgesamt und Nikita Chruschtschow (1894–1971) persönlich. Daher wurde der sozialistische Realismus nach dieser Moskauer Kunstaustellung erneut politisch als die ideologisch einzig geeignete schöpferische Ausdrucksweise festgelegt, was die neuen expliziten zensorischen Grundsätze zur Folge hatte. Dennoch wurden im Unterschied zu Stalinscher Periode weder die ideologisch angegriffenen Werke abgehängt noch die Ausstellung an sich aufgelöst, noch den Besucherinnen und Besuchern ihr Zutritt verwehrt.
Eine weitere Änderung betraf den Focus der ideologischen Aufsicht über die Kunstschaffenden. Dieser zensorische Blick verlor seine ursprüngliche Schärfe. Solche Schaffensarten wie Design, Architektur oder die angewandte Kunst wurden jedoch als nicht für das kommunistische Regime ideologisch tragend definiert. Das entband diese Kunstarten in gewisser Weise ihrer ideologisch-funktionaler Zwänge und weitete das damit verbundene Zensurkorsett. Die jeweiligen Künstlerinnen und Künstler, die es für möglich hielten und es von den der Malerei und Bildhauerei auferlegten Zwängen herauskommen wollten, änderten entsprechend lieber ihr künstlerisches Profil als den Vorgaben des Regimes zu dienen.
Dieser Trend spiegelte sich ebenfalls administrativ wider. Die Plakatkunstsektion des Künstlerverbandes war deutlich offener gegenüber nicht ganz gradlinigen künstlerischen Lebensläufen, die auch anderweitige Ausbildungswege verbuchten, was insbesondere im Hinblick auf die strikten Mitgliederaufnahmeregelungen der Malereisektion allzu deutlich kontrastierte.
Der geschilderte politische Kontext erklärt auch die weitere Entwicklung der Plakatkunst und ihre baldige spätere Blüte in Lettland. Die allgemeine Beliebtheit und zahlreiche spannende kreative Entwicklungen in dem ganzen Ostblock wirkten für diese Trends unterstützend. Polen wäre hier als ein besonders herausragendes positives Beispiel hervorzuheben. Der Austausch mit den Kunstschaffenden aus den Ostblockstaaten war von Lettland aus sehr wohl möglich. Das hatte spürbare kreative Einwirkungen auf die lettischen Plakatkunstszene. Nicht zu unterschätzen wären die in der Zeit auch derartige praktische Überlegenheit wie die vergleichsweise simple Transportfähigkeit von Plakaten per Post, die eine rege Teilnahme an Ausstellungen im Ausland ermöglichte, was die zahlreichen, den lettischen Plakatkunstschaffenden verliehenen internationalen Auszeichnungen belegen.
Mit dem Werbeplakat von Gunārs Kirke für die Ausstellung von Leo Kokle (1924–1964) im Jahr 1963 kann man den Beginn der gegenwärtigen lettischen Plakatkunst markieren. Das Schaffen von Kirke war für die lettische Plakatkunst von einer grundsätzlichen Bedeutung. Nicht zuletzt wirkte auch seine öffentliche Stellung am Künstlerverband als Leiter der Plakatkunstsektion fördernd auf die lettische Plakatkünstlerszene aus.
Im Jahr 1966 kam es zur ersten Plakatkunstausstellung in Lettland. Neben den im Auftrag von Behörden und massenweise gedruckten öffentlichen Plakaten wurde dort erstmals das Plakat als ein für sich eigenständiges, lediglich dem Schaffen des Künstlers entstandenes Kunstwerk präsentiert. Auch die Plakatentwürfe wurden nun ebenfalls als abgeschlossene Kunstwerke mit einer den ausgefertigten Plakaten gleichen künstlerischen Wertigkeit vorgestellt. Dieser Ansatz wurde auch in späteren Ausstellungen und Freilichtexpositionen von Plakaten verfolgt.
In den 1970er Jahren dominierten für verschiedene kulturelle Veranstaltungen erschaffene Werbeplakate die Plakatkunst, vor allem für Theateraufführungen und Kunstausstellungen. Es wurden ausgefeilte malerische und grafische Techniken eingesetzt, um den Bildern und Zeichnungen eine tiefere Bedeutung zu verleihen. Man interpretierte das Plakat als eine persönliche Sichtweise seines Verfassers auf Dinge, die Umwelt und die Gesellschaft. Im Jahr 1974 erzielte das Plakat von Laimonis Šēnbergs mit dem Titel „Die humane Denke – zu Diensten des Fortschritts“ auf der Warschauer Plakatbiennale internationale Aufmerksamkeit. Neben Laimonis Šēnbergs gehören solche Namen wie Ilmārs Blumbergs, Juris Dimiters, Georgs Smelters, Gunārs Zemgals (1934–2018) und Gunārs Lūsis (1950) zu den herausragendsten Plakatkünstlern dieses Jahrzehnts.
Die 1980er Jahre kann man als das wahrhaft goldene Jahrzehnt der lettischen Plakatkunst bezeichnen. Bezeichnend für diese Periode ist es, dass sie von allen Generationen der Plakatkunst zur selben Zeit geprägt wurde. Die Bildsprache folgte nun der höchsten ästhetischen Ambition. Die Vermittlung der jeweiligen von sozialer Verantwortung geladenen Botschaften erreichte zu Beginn dieses Jahrzehnts eine außerordentliche emotionale Spannung. Diese Phase prägten die Plakatkünstler Andris Breže (1958), Ivars Mailītis (1956), Ojārs Pētersons (1956) und Juris Putrāms (1956). Für den Ausklang dieser Periode ist jedoch die publizistische Groteske und Drolligkeit mit den Namen Visvaldis Asaris (1960), Vilnis Piķis (1958), Kristiāns Šics (1961) und Egils Vītols (1961–2010) bezeichnend.
Mit dem Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems kehrte die Plakatkunst in den 1990er Jahren in ihre utilitaristische Funktion in Lettland zurück. Die erfolglosen Ausstellungs- und Kunstwettbewerbsversuche konnten kaum zu einer Steigerung der sozialen und künstlerischen Bedeutung der Plakatkunst beitragen. Das Plakat wurde durch neue Medien und Schaffensformen ersetzt.
Roberts Putnis