Die Aufführung von Henrik Ibsens „Brand“ im Daile-Theater ist noch heute ein weitbekannter Bestandteil der lettischen Theatergeschichte. Der Regisseur Arnolds Liniņš und sein Team konnten eines der kompliziertesten Werke in der Dramawelt auf künstlerisch innovativer, aber auch verständliche Weise aufführen. Mehrere Elemente der Aufführung gelten heutzutage als Beispiele erstklassiger Bühnenkunst, und zwar das Bühnenbild von Ilmārs Blumbergs (1943–2016), die Bewegungskomposition von Modris Tenisons (Jahrgang 1945), die Musik von Raimonds Pauls (Jahrgang 1936) und Juris Strengas (Jahrgang 1937) Darstellung der Titelrolle. Die Ästhetik der Aufführung berief sich auf die Tendenzen des derzeitigen europäischen Theaters. Hätte es keine sowjetische Besatzung gegeben, die Gastspiele im Ausland unmöglich machte, hätte die Aufführung auch international bekannt werden können.
Die Hauptfigur der Tragödie „Brand“ (1866) des hervorragenden norwegischen Dramatikers Henrik Johan Ibsen (1828–1906) ist der junge, idealistische Pfarrer Brand, der glaubt, dass das Christentum und die Christen wegen verschiedener Kompromisse ihre Macht verloren haben. Der junge Mann hat einen festen Glauben an den menschlichen Willen und lebt nach dem Motto „alles oder nichts“. Wegen seiner moralischen Werte geht Brand auf keine Kompromisse ein und ist bereit, im Namen seiner Prinzipien seine Mutter, Frau und seinen Sohn zu opfern. Brand baut mit seinen Anhängern eine große Kirche, aber am Einweihungstag wird ihm klar, dass dies der falsche Ort für die Suche nach Gott ist, und führt die Massen in die Berge. Dort verlieren die Leute den Mut und kehren zurück. Brand sucht aber ganz alleine weiter nach Gott und kommt letztendlich in einer Lawine um.
An der Interpretation des Werkes (1975 inszeniert) nahmen neben dem Regisseur Arnolds Liniņš und seinem Assistenten Kārlis Auškāps (Jahrgang 1947) große Meister teil – die vorher genannten Ilmārs Blumbergs, Modris Tenisons und Raimonds Pauls. Die Hauptfigur wurde von Harijs Liepiņš (1927–1998) und Juris Strenga dargestellt, Brands Frau Agnes – von Olga Dreģe (Jahrgang 1938) und Ausma Kantāne (1941–2022). Insgesamt belief sich das große, vereinte Ensemble auf fast 30 SchauspielerInnen.
Es handelte sich um keine realistische Ästhetik: Die Bühnengestaltung, Kostüme und Bewegungskomposition sollten nicht den historischen Zeitpunkt, geographischen Ort und die Sozialschicht der Figuren widerspiegeln, sondern durch Zeichen und Metaphern ein philosophisches Weltmodell auf der Bühne schaffen. Von Alltäglichkeit befreit, das Bühnenbild von Ilmārs Blumbergs enthüllte den tieferen Sinn des Werkes. Auf der dunklen, von schwarzen Kulissen umringten Bühne stand eine große Plattform in Form eines unregelmäßigen Vierecks, der mit unterschiedlicher Stärke von den SchauspielerInnen bewegt wurde. Die Plattform war ein poetisches Zeichen, das das innere Leben von Brand und dessen Schwankungen veranschaulichte und selten ruhig und harmonisch blieb.
Der Bewegungsregisseur Modris Tenisons verzichtete auf Tänze und alltägliche Bewegungen und studierte stattdessen beeindruckende Massenszenen ein: Menschliche Figuren erzeugten einen bestimmten Rhythmus und wiederholten verschiedene Bewegungen, um so natürliche Ereignisse wie Wind und Wellen sowie die Schwankungen des inneren Lebens eines Menschen darzustellen.
Das Bühnenbild und die Bewegungskomposition waren für das lettische Theater sehr innovativ. Ilmārs Blumbergs und auch Modris Tenisons hatten bereits künstlerische Erfahrungen im in den Kulturkanon aufgenommenen Ensemble „Rigaer Pantomime“ gesammelt. Beide Künstler gingen mit dem Text relativ frei um und suchten nach Ausdrucksformen, die der Idee des Werkes entsprachen und der bildenden und Bewegungskunst entstammten.
Die emotionelle Steigerung wurde größtenteils durch die Musik von Raimonds Pauls erreicht. Die Partitur wurde mit dem hervorragenden Kammerchor „Ave Sol“ unter Leitung des Dirigenten Imants Kokars aufgenommen. Die hymnische Musik war ein organischer Bestandteil der Gesamtstruktur der Aufführung, indem sie die Gefühle und Gedanken der Figuren deutlich widerspiegelte.
Die Besetzung war sehr unterschiedlich, besonders unter den Darstellern von Brand. Harijs Liepiņš stellte ihn als einen mehr oder weniger klassischen Helden dar, der außerhalb der Massen steht und einsam und manchmal sehr emotional ist. Auch bei der Darstellung von Brand verlor er seine eigene Theatralität keineswegs und betonte Brands Romantik, die sonst in der Aufführung nicht hervorgehoben wurde. Juris Strenga war im Vergleich zu Liepiņš viel gelassener, wurde eher zum Teil des Ensembles und des gesamten Zeichensystems der Aufführung. Die Askese und Scharfsinnigkeit von Strengas Brand wurde durch die schmale Statur des Schauspielers selbst hervorgehoben. Im Unterschied zu Harijs Liepiņš vermied Strenga das im Ibsens lyrischen Text vorkommende Pathos, sorgte aber dafür, dass jeder Gedanke die ZuschauerInnen erreichte. Der von Strenga dargestellte Brand wurde dadurch etwas zeitgenössischer. Diese Darstellung ist auch in der Videoaufnahme der Aufführung zu sehen und gilt als Strengas höchste berufliche Leistung.
Die Aufführung von „Brand“ mit Juris Strenga in der Titelrolle wurde zum Höhepunkt der Gastspiele des Daile-Theaters in Moskau im Jahre 1978. Die ZuschauerInnen stürmten jede Vorstellung. Um das Gastspiel des Rigaer Theaters zu sehen, sollen Leute zwei Eintrittskarten für den neuesten „Blockbuster“ der Theaterszene, „Den Meister und Margarita“ im berühmten Taganka-Theater, gegen eine einzige Eintrittskarte für „Brand“ getauscht haben.
Die Aufführung wurde 147-mal bis 1987 gespielt. Laut Theaterwissenschaftlerin Lilija Dzene ist der Hauptwert der Aufführung die Fähigkeit, ein dramatisch kompliziertes Material in eine zeitgenössische Sprache umzuwandeln, die die ZuschauerInnen direkt und zeitgemäß anspricht: „Die größten Leistungen von Arnolds Liniņš sind seine aktive Gesinnung gegenüber dem dramatischen Material und die Überzeugung davon, dass die Gegenwartsgesellschaft Ibsens Botschaft braucht. [..] Arnolds Liniņš hat durch seine Interpretation eines der kompliziertesten Dramen in einen Maßstab für den Sinn des Lebens umgewandelt.“ Die künstlerische Sprache der Aufführung wirkt auch heutzutage modern, dies lässt sich in den gelegentlich veranstalteten öffentlichen Vorstellungen der Videoaufnahme beweisen: Im 21. Jahrhundert ist sie sowohl im Daile-Theater als auch im Fernsehen gezeigt worden.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka