Starke psychologische Ausrichtung ist eines der Merkmale der lettischen Bühnenkunst. Schon seit 1969 hat Māra Ķimele stets in ihren Aufführungen in verschiedenen lettischen Theaterhäusern nicht nur die Darstellung der psychologischen Beweggründe der Menschen angestrebt, sondern auch die Prozesse des Unterbewusstseins analysiert. Dank der psychoanalytischen Methode von Māra Ķimele bekommen klassische und zeitgenössische Werke von lettischen und ausländischen AutorInnen ein neues Gesicht. Die Regisseurin benutzt geschickt Methoden des psychoanalytischen und des Spieltheaters. Seit Anfang ihrer Karriere hat Ķimele die üblichen Grenzen der Theaterkunst erweitert, und zwar durch Aufführungen außerhalb des Theaterhauses und in Form des Rituellen Spiels (in den 1970er Jahren in Hannover von Heinz Schlage entwickelt) und der Improvisation. Sie hat auch ein Riesenerbe in der Schauspiel- und Regieausbildung in Lettland hinterlassen.
Ķimeles Familie ist schon über mehrere Generationen hinweg mit Kunst und Theater verbunden. Ihre Großeltern sind die Theaterregisseurin Asja Lācis (1891–1979) und der Schriftsteller Jūlijs Lācis (1892–1941). Der Schauspieler Vilis Ķimelis (1911–2009) ist Ķimeles Vater. Der zweite Ehemann von Asja Lācis war Bernhard Reich, deutscher Regisseur und Theatertheoretiker (1892/1894–1972). Diese Persönlichkeiten bildeten die Kulturbasis der Arbeit von Māra Ķimele.
Sie hat an der Russischen Akademie der Theaterkunst (GITIS) beim Meister des psychologischen Theaters Anatolij Efros (1925–1987) studiert, der ihr eine hervorragende, auf detaillierte psychologische Forschung basierte Theaterbildung vermittelte. Das Interesse an den Tiefen der menschlichen Seele hat Ķimele schon in ihrer Diplomarbeit gezeigt, nämlich in der Aufführung von Tennessee Williams‘ „Die Glasmenagerie“ 1969 in Liepāja.
Schon seit den ersten Aufführungen hat Ķimele mit den bedeutendsten lettischen BühnenbildnerInnen zusammengearbeitet, darunter Andris Freibergs (Jahrgang 1938), Ilmārs Blumbergs (1943–2016) und Aija Zariņa (Jahrgang 1954), was eine bedeutende Rolle für die Weiterentwicklung von visuellen Zeichensystemen auf der Bühne hatte.
In den 1970er und 1980er Jahren arbeitete Ķimele erfolgreich im dramatischen Theater in Valmiera. Ihre dortigen Werke zählten zur Avantgarde der lettischen Theaterkunst. Eine sehr talentierte Schauspieltruppe, die sich im in den Kulturkanon aufgenommenen Theater von Oļģerts Kroders ausgebildet hatte, darunter Ināra Ieviņa, Roberts Zēbergs, Agris Māsēns und Skaidrīte Putniņa, hieß die Regisseurin willkommen. Ķimele hat selbst eine neue Generation von SchauspielerInnen erzogen: Zu ihren „Alumni“ gehören u. a. Dace Eversa, Aigars Vilims, Inese Ramute und Januss Johansons.
In Ķimeles Aufführung von Jean Anouilhs „Médée“ 1975, in der Ināra Ieviņa die Titelrolle spielte, wurde der Konflikt zwischen den Welten von Frau und Mann dargestellt. Jean Anouilh hat die altgriechische Tragödie bearbeitet, um ihre Aktualität in der heutigen Zeit zu prüfen. In „Médée“ handelt es sich um Medea, die Tochter des Königs von Kolchis, die dem Helden Iason dabei hilft, das Goldene Vlies zu erbeuten, sich dann mit dem Mann in Korinth niederlässt und zwei Söhne zur Welt bringt. Nachdem Iason beschließt, die Tochter des Königs von Korinth zu heiraten, tötet Medea aus Rache ihre gemeinsamen Kinder. Rituelle Elemente waren im Mittelpunkt der Aufführung, die 1975 in der Sankt-Simeon-Kirche in Valmiera stattfand und damit die erste Aufführung war, die außerhalb des gewohnten Theatergebäudes inszeniert wurde.
Die 1984 inszenierte Aufführung von Dale Wassermans „Einer flog über das Kuckucksnest“ nach dem gleichnamigen Roman von Ken Kesey wurde unter den Umständen der sowjetischen Besatzungszeit als eine Geschichte über einen Mann namens McMurphy (dargestellt von Aigars Vilims) betrachtet, der seiner Freiheit vom System – psychiatrischer Klinik – und dessen Personifizierung durch die Krankenschwester Ratched (dargestellt von Ināra Ieviņa und Ligita Dēvica) beraubt wird. Die Aufführung erschien, bevor der berühmte Film von Miloš Forman mit Jack Nicholson in der Hauptrolle in der Sowjetunion gezeigt wurde. In der Interpretation von Rainis' Volkslied „Dünawind“ (Pūt, vējiņi!) von 1985 verkörperte die von Dace Eversa dargestellte Baiba die geistige Kraft, durch die sich der starke Charakter von Uldis (dargestellt von Aigars Vilims) ändert.
1989 begann Māra Ķimele ihre Arbeit in verschiedenen Theatern in Riga. Ihre Tätigkeit im Neuen Theater Riga, das in den Kulturkanon aufgenommen worden ist, ist besonders nennenswert. Das Stück „Das Buch Rut“ (1994) auf Basis des Alten Testaments enthielt viele rituelle Elemente, alle Rollen wurden von Schauspielerinnen gespielt, es wurden auch lebensgroße Puppen verwendet. Die Handlung wurde gleichzeitig an zwei Ecken der Bühne abgespielt, so dass die um die Bühne sitzenden ZuschauerInnen zwei verschiedene Sichtpunkte hatten. Die Aufführung „Shakespeare liebt mich“ von 1996 wurde von der Improvisation der SchauspielerInnen getragen: Die shakespeareschen Sonette wurden in unterschiedlichen Kombinationen vorgetragen und die SchauspielerInnen machten dabei schwierige körperliche Übungen.
Die SchauspielerInnen des Neuen Theaters Riga wurden durch die Arbeit in Ķimeles Aufführungen stark geprägt. Das Stück „Ein Monat auf dem Lande“ von Iwan Turgenjew (2005 aufgeführt), wirkte wie eine tiefgreifende Forschung von Liebesäußerungen, die zugleich lustig und traurig war. Die psychologische Gestalt der Figuren wurde gründlich durchforscht: Besonders wirksam war die Beziehung zwischen der von Sandra Kļaviņa dargestellten Natalja Petrowna und dem von Andris Keišs dargestellten Rakitin, der in sie verliebt ist. Die Aufführung hatte ein erfolgreiches, zehn Jahre langes Leben. Die Aufführung von Inga Ābeles „Aspazija. Persönlich“ (2015) gab der Schauspielerin Baiba Broka die Möglichkeit, ihr Können unter Beweis zu stellen, indem sie physiologisch und psychologisch hervorragend die Dichterin Aspazija von der Jugend bis zur Todesstunde darstellte und dabei philosophische Ideen äußerte.
Māra Ķimele leistet wichtige Arbeit in der Theaterlehre. Zu den SchauspielerInnen, die in verschiedenen Zeiten bei ihr am Lettischen Staatlichen Konservatorium oder an der Lettischen Kulturakademie Schauspielkunst gelernt haben, zählen Ģirts Ķesteris, Rēzija Kalniņa und Daiga Gaismiņa. Hierzu muss man auch den Regisseur Alvis Hermanis zählen, der bedeutende Rollen in Ķimeles Aufführungen hatte: Er hat z. B. den Intriganten Iago in Shakespeares Tragödie „Othello“ (1990) und den Diener Jean im August Strindbergs psychologischen Drama „Fräulein Julie“ (2004) gespielt.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka