Oļģerts Kroders ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der lettischen Theatergeschichte. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre brachte Kroders im Valmiera-Theater talentierte SchauspielerInnen der neuen Generation zusammen und entwickelte ein im westlichen Theater neues und im lettischen Theater komplett unbekanntes Arbeitsmodell: das Theater der Gleichgesinnten, in dem die Beziehung zwischen dem Regisseur und den SchauspielerInnen gleichberechtigt und demokratisch war. Das demokratische und gar nicht hierarchische Denken von Oļģerts Kroders spiegelte sich in seinen Aufführungen wider: Durch seine moderne Interpretation des klassischen Dramas machte er die Figuren zu ZeitgenossInnen und befreite den Schauspielstil vom Pomp. Das Kollektiv, in dem völlige Vertraulichkeit herrschte, entfaltete in seinen Aufführungen eine Subtextebene, die während der sowjetischen Besatzungszeit die ZuschauerInnen zu kritischem Denken aufforderte. Der Regisseur blieb seinen demokratischen Ansichten und Arbeitsmethoden bis zum Ende seines Lebens treu. Seine Persönlichkeit beeindruckte sowohl SchauspielerInnen als auch andere RegisseurInnen und ist auch im heutigen lettischen Theater zu spüren.
Oļģerts Kroders war in einer Familie intellektueller Theaterleute geboren: Sein Vater war der Theaterkritiker Roberts Kroders (1892–1956), seine Mutter die Schauspielerin Herta Krodere (1891–1943). So lernte er schon in der Kindheit das Theater hautnah kennen. Er bekam aber keine Theaterbildung, denn er wurde während der sowjetischen Deportationen von Juni 1941 zusammen mit der Familie nach Sibirien gebracht und konnte nur 1956 nach Lettland zurückkehren. Im Asyl führte er mit Einheimischen und Deportierten mehrere Laienspiele auf.
Nach seiner Rückkehr konnte Kroders als ehemaliger Deportierter nicht in Theatern der Hauptstadt arbeiten, aber der Regisseur Eduards Smiļģis nahm ihn zum Assistenten im Daile-Theater. Die ersten selbständigen Aufführungen im professionellen Theater entstanden in Liepāja, wo Kroders fünf Jahre lang arbeitete (1959–1964), den Beruf des Regisseurs kennenlernte und viele theoretische Werke las. 1964 studierte Kroders in Moskau, besuchte die kreativsten Aufführungen des russischen Theaters sowie auch Gastspiele von westlichen Theatern, darunter die Aufführung von Shakespeares „König Lear“, deren Regisseur der neue Interpret der shakespearschen Werke Peter Brook war. Diese Aufführung beeinflusste sehr die Haltung von Oļģerts Kroders zu Interpretationsmöglichkeiten von klassischen Dramen. 1964 begann er seine Tätigkeit im Valmiera-Theater, wo er innerhalb von zehn Jahren aus SchauspielerInnen der jüngeren und mittleren Generation eine Gruppe von Gleichgesinnten bildete und pflegte.
Die Idee des Theaters der Gleichgesinnten liegt darin, dass die Kunst die Gesellschaft ändern kann, indem sie die Gesellschaft zum Denken animiert. Das Gemeinsame bei den Mitgliedern des Theaters der Gleichgesinnten ist nicht nur die Aufführung von Dramen, sondern auch das Interesse an kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen und die Besprechung von Büchern, Aufführungen und Filmen. Dieses Prinzip wurde in mehreren weltberühmten Truppen eingeführt, z. B. im „Sowremennik“-Theater (Zeitgenosse) in Russland, das 1956 u. a. von Galina Woltschek, Oleg Tabakow und Oleg Jefremow (1927–2000) gegründet wurde; Jerzy Grotowskis (1933–1999) „Teatr Laboratorium“, das 1965 gegründet wurde und 1968 die letzte Aufführung erlebte, jedoch dessen Truppe die Suche nach individueller Selbstverwirklichung und Kommunikation im Leben außerhalb des Theaters fortsetzte, und das 1964 in Frankreich gegründete „Théâtre du Soleil“ von Ariane Mnouchkine (1939).
Während der Proben gewährte Oļģerts Kroders seinen SchauspielerInnen große künstlerische Freiheit und nahm ihre Ideen und Vorschläge wahr. So nahmen die SchauspielerInnen eine aktive Position ein und wurden zu Mitautoren. Zwischen dem Regisseur und den SchauspielerInnen herrschte völlige Zuverlässigkeit. Der Schauspieler Rihards Rudāks (Jahrgang 1943) hat gesagt: „Kroders war zweifellos eine Autorität in der Schauspieltruppe des Valmiera-Theaters der 1960er und 1970er Jahre. Sein Stil, Denken, Literatur- und Filmwissen war ein Musterbeispiel, das man anstreben mochte. Kroders zeigte sich jedoch nie klüger als die anderen, er war sowohl in Gesprächen als auch in der Arbeit immer bei uns. Er ist eine hinreißende, humorvolle Persönlichkeit, der man immer nah sein will. Er hat noch eine besondere Eigenschaft, und zwar, dass er eine Aufführung einstudiert, ohne dabei sich selbst hervorzuheben; er bleibt im Schatten, so dass es scheint, dass der Schauspieler selbst alles erreicht hat. Das ist ein angenehmer Trick. Es ist sehr wichtig, sich wie ein Mitautor zu fühlen. Im Theater von Kroders gibt es keinen einzigen Autor, sondern mehrere.“
Oļģerts Kroders konnte nicht nur auf gleichberechtigter Ebene mit SchauspielerInnen kommunizieren, sondern auch durch seine Aufführungen die ZuschauerInnen auf Augenhöhe ansprechen. Er hat viermal die berühmte shakespearesche Tragödie „Hamlet“ aufgeführt: im Valmiera-Theater (1972 und 2008), im Liepāja-Theater (1984) und im Lettischen Nationaltheater (1997). Im Mittelpunkt steht ein dänischer Prinz, der an existentielle Lebensfragen denkt und den Mörder seines Vaters – Claudius, seinen Onkel und den neuen Mann seiner Mutter – zu entlarven versucht. Kroders betrachtete Hamlet jedoch in seinen Aufführungen immer als einen Mann seiner Zeit in einer aktuellen Situation. Krista Burāne und Mārtiņš Eihe drehten 2009 einen Dokumentarfilm über Oļģerts Kroders und seine „Hamlet“-Aufführungen, „Der fünfte Hamlet“ (Piektais Hamlets).
Nach zehn Jahren in Valmiera arbeitete Kroders im Liepāja-Theater (1974–1989), später im Lettischen Nationaltheater (1990–1995). In den letzten Jahren seines Lebens kehrte er zum Valmiera-Theater zurück, wo er 2001 bis 2012 arbeitete, eine für sein Alter nicht typische, fruchtbare künstlerische Zeit hatte und wo er später auch lebte. Er arbeitete bis zum Tod mit SchauspielerInnen unterschiedlicher Generationen und konnte sich dabei auch mit den jüngsten sehr gut verstehen. Seit seinem Tod wird jedes Jahr am Namenstag von Oļģerts, dem 20. Januar, den herausragendsten VertreterInnen der Theaterwelt der Kroders-Preis verliehen.
„Der Name Kroders ist im lettischen Theater ein Begriff für Professionalität, Talent, Teamarbeit und demokratische Haltung zum Leben und zur Kunst“, so steht es auf kroders.lv, der Webseite der lettischen Theaterbranche, die seit 2011 besteht und die nach Oļģerts Kroders und seinem Vater Roberts benannt wurde. So ist der Name zum Allgemeingut geworden, zu dem sich gerne alle Theaterleute in Lettland bekennen.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka