Eine junge Demokratie stellt sich vor, versucht sein Selbstbild architektonisch festzuhalten. Der Raum soll von Tradition und dem Ursprung der Republik berichten, die erst vor einigen Jahren ihre Unabhängigkeit als Nation erlangte, womit für ihre Bürgerinnen und Bürger auch die persönliche Freiheit erkämpft wurde. Die Akme der Nation soll visuell und taktil greifbar gemacht werden, jedoch ist es kein Bruch mit der Geschichte oder das Erstarren derselben. Vielmehr wird hier eine in die Zukunft voller Zuversicht gerichtete Progression geschildert. Darüber hinaus soll man sich einer Sprache bedienen, die einem Fremden aus Übersee gleich verständlich ist und ihn vom Können und der Ambition der Letten überzeugt, ihre eigene Zukunft im Zusammenwirken mit anderen Nationen standfest zu gestalten.
Die potenziellen Bewerber wurden vor eine solche Aufgabe vom ersten lettischen Staatspräsidenten Jānis Čakste (1859–1927) gestellt, einem weltgewandten Demokraten aus tiefster Überzeugung und dem neuen Hausherrn des historischen Rigaer Ordensschlosses (14.–20. Jh.), als das Präsidialamt 1923 die Neugestaltung des damaligen Gästesaales des Rigaer Schlosses ausschrieb. Laut Auftrag sollte dieser Raum in seiner neuen Erscheinung zur zentralen Repräsentationsstelle Lettlands werden. Čakste fungierte als Leiter der lettischen diplomatischen Delegation, die sich bei den Siegermächten des Ersten Weltkriegs um die Anerkennung und den Schutz für die neu ausgerufene Republik bemühte. Daher war er es ihm nun ein wichtiges Anliegen, über diesen zentralen Empfangssaal seinen Gästen das Wesen der Letten eröffnen zu können. In seiner Funktion als Gesandtenempfangssaal ist es bis heute der Raum, in dem die ausländischen Botschafterinnen und Botschafter dem lettischen Staatsoberhaupt ihre Akkreditierungsbriefe überreichen. Hier empfängt der Präsident der Republik auch seine Staatsgäste.
Die vom Präsidenten Jānis Čakste einberufene Jury glich einem Pantheon der lettischen Kunst und umfasste solche Persönlichkeiten wie den Maler Vilhelms Purvītis (1872–1945), den Graphiker Rihards Zariņš (1869–1939), die Architekten Pauls Kundziņš (1888–1983) und Eižens Laube (1880–1967), den Bildhauer Teodors Zaļkalns (1876–1972), den Künstler und Enthusiasten des lettischen Heidentums Ernests Brastiņš (1892–1942) sowie den Ethnographen Matīss Siliņš (1861–1942). Aus dem Wettbewerb ging der Entwurf „Wiedergeburt“ (lett. „Atdzimšana“) des Malers, Graphikers und Designers Ansis Cīrulis als Sieger hervor.
Sein gesamtes Schaffen durchzieht das ununterbrochene Bestreben nach einer universell und kontemporär ansichtigen Manifestation der tradierten lettischen Ästhetik. So kann man bei der Neuformung des Gesandtenempfangssaales über eine Quintessenz seines Werks sprechen, die sich in dem hier erreichten stringenten Gleichklang der vom Künstler gewählten Formsprache einerseits und der Designfunktionalität andererseits äußert. Jedes einzelne Raumelement ist bis ins kleinste Detail das Ergebnis der Kreativität von Ansis Cīrulis: Wand- und Deckenmalerei, Leuchtkörper, alle Möbelstücke mit sämtlichen verwendeten Stoffen wie den Vorhängen, dem großflächigen Teppich und den Polsterbezügen sowie anderen Stoffteilen am Mobiliar. Ansis Cīrulis wirkte persönlich ebenfalls bei der handwerklichen Umsetzung seines Entwurfes mit. So stammen die meisten Wand- und Deckenmalereien von seiner eigenen Hand. Die einzige Ausnahme bildet der unverändert übernommene und bis jetzt weiterhin als Bodenbelag dienende Parkettboden aus der Zeit, wo das Rigaer Schloss als Amtssitz des Livländischen Gouverneurs diente. Damit erstellt Cīrulis Bezug zur jahrhundertelangen Geschichte dieses Gebäudes als einem Signum der Vorherschafft fremder Obrigkeit, das nun vom lettischen Freistaat zwar kompromisslos neuer Definition unterworfen wird, ohne dabei jedoch mit diesem Erbe in eine konfrontative Kollision zu geraten.
Cīrulis‘ „Wiedergeburt“ geschieht durch eine interpretative Übertragung von nationalen Ornamenten und Motiven in die kontemporäre Form des zu dieser Zeit vorherrschenden Art Deco. So sind die einzelnen Möbelstücke in ihrer Grundkonstruktion von einer den traditionellen lettischen Gehöften üblichen Schwere, doch werden sie durch edelste Holzschnitte, Mosaiken und Intarsien in den aktuellen Zeitgeist versetzt. Die dabei verwendeten Muster, Ornamente und Zeichen lassen sich explizit der lettischen Tradition zuschreiben. Zugleich sind sie in der Stilisierung, Revision und teilweise auch Simplifikation von Cīrulis nicht minder der national-dekorativen Strömung die damalige Zeit global prägender Epoche des Art Deco eigen. Das von Cīrulis kreierte Ensemble umfasst auch eine Interpretation des lettischen ethnographischen Holzstuhls „Stulpiņš“.
Im Kontext der Katastrophen in der Geschichte Lettlands ist diese Designkreation auch damit herausragend, dass man dieses Werk bis heute sowohl in seiner Vollkommenheit betrachten als auch in seiner ursprünglichen Funktion erleben kann. Das ist einer sorgfältigen Restauration und auch dem vielen Glück im Unglück zu verdanken.
Mit dem Verlust der Eigenstaatlichkeit wurde dieses Designwerk von den Besatzungsmächten seiner Funktion beraubt. Während der sowjetischen Herrschaft fungierte das Rigaer Schloss anteilig als der Palast der Pioniere. In ihrem Ausdruck eine so starke Bildsprache von Cīrulis war jedoch konträr den kommunistischen propagandistischen Bemühungen. Die lettischen Sonnenornamente an den Wänden und die die Gestalt des Donnergottes schmückende Swastika wurde mit einfacher Wandfarbe überdeckt und die durch den Zeitablauf immer wieder fälligen Reparaturen wurden ohne Rücksicht auf den künstlerischen Wert dieses Objektes ausgeführt. Nach und nach verschwand auch die Mehrzahl des Mobiliars und der Stoffobjekte. Der 8 mal 8 Meter große ornamentale Teppich von Cīrulis war spurlos verschustert. Dennoch hatten die sowjetische Mangelwirtschaft und die damit verbundenen allgemein defizitären Investitionen in die Aufrechterhaltung des historischen Erbes an sich zur Folge, dass der Saal in dieser Zeit nie einer planmäßigen Neugestaltung oder gar einer umfassenderen Renovierung unterzogen wurde.
Deswegen war es bereits zwischen 1989 und 1990 bei der Wiederanpassung der Räumlichkeiten für die Bedürfnisse des erneuerten Präsidialamtes möglich, die Wandmalereien im Gesandtenempfangssaal zu restaurieren. Die größte Gefahr erlebte das Werk jedoch 2013, als das Rigaer Schloss während der Sanierung in Brand geriet. Auch der Gesandtenempfangssaal erlitt vor allem große Wasserschäden. Die Deckengemälde rettete die bereits in den zwanziger Jahren im Dach eingebaute Betonkonstruktion, das Mobiliar hingegen – seine zeitweilige Auslagerung.
Dem folgte eine ambitionierte und dank der vorhandenen umfangreichen Dokumentation sowie dem verhältnismäßig passablem Gesamtzustand des Kunstwerks eine bis ins letzte Detail originaltreue Rekonstruktion. Während zum Zeitpunkt seines Entstehens jedes einzelne Element des Gesandtenempfangssaales trotz teilweise handwerklich extraordinärer Komplexität in Lettland angefertigt werden konnte, musste das Restaurationsteam im 21. Jahrhundert einen spürbaren Verlust an Handwerkskunst hinnehmen. Nur die Bündelung der lediglich fragmentiert vorhandenen Expertise ermöglichte es, auch diesmal die Produktion der einzelnen Kunstwerke vor Ort durchzuführen. Die einzige Ausnahme war der große Bodenteppich, von dem nur schwarzweiße Aufnahmen vorlagen. Deswegen handelt es sich bei dem neuen Teppich um eine in Folge komparativer Studien von museal aufbewahrten Teppichen und anderen Gewebedesigns von Ansis Cīrulis geschaffene Interpretation des Bochumer Teppichdesigners Jan Kath, dessen Team dieses den gesamten Raum so prägende Element in Nepal anfertigen ließ. Der vollständig restaurierte Gesandtenempfangsaal ist seit 2016 wieder den Besuchern zugänglich und wird vom Präsidialamt in seiner Urfunktion genutzt.
Die Designs von Ansis Cīrulis genießen heute in Lettland einen Kultstatus. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die von ihm erstellten Schriftarten mit ihren asymmetrisch variablen Grundstrichbreiten und Rundungen, gebrochenen, teils als Verzierungen und Verbindungen zwischen den einzelnen Buchstaben angebrachten Sonderzeichen. Als Schriftzüge und Buchstabenillustrationen erfreuten sie sich zunächst auf diversen Artikeln eines Rigaer Designstudios großer Beliebtheit. Seit 2017 stehen sie nun digital einem breiteren Publikum weltweit als eine für den Computereinsatz geeignete digitale Schriftart zur Verfügung.
Ansis Cīrulis kam 1883 in einer Handwerkerfamilie in heutigem Jūrmala zur Welt. Nach Abschluss seiner Maurerlehre strebte er Malereiausbildung an, was ihn über diverse Kunststudios in Riga zum Studium des technischen Zeichnens nach Sankt-Petersburg und später regelmäßig zum Kunststudium an École du Louvre und Académie Julian in Paris führte. Ohne formale künstlerische Ausbildung schuf Cīrulis vielseitige und außerordentlich bedeutsame Werke. Zu seinem Erbe gehören neben Gemälden, Graphiken, Keramiken, Gewebemustern, Tapisserien und zahlreichen Möbelentwürfen auch diverse weitere Designs von nationaler Bedeutung wie die erste Postmarke der Republik Lettland, Abzeichen der an den Freiheitskämpfen beteiligten Truppen oder Kommunalwappen genauso wie zahlreiche Wand- und Deckenmalereien an öffentlichen Gebäuden wie dem Konzerthaus von Dzintari (1936) in seiner Geburtsstadt. In der Zeit der nationalistischen-autoritären Diktatur (1934–1940) vereinnahmte Kārlis Ulmanis (1877–1942) den ebenfalls stark nationalistisch gesinnten Künstler zu seinen politischen Propagandazwecken. Ansis Cīrulis verstarb in Riga während der deutschen Besatzung im Jahr 1942.
Roberts Putnis