„Ebenso lettisch, wie die Sphinx ägyptisch ist“ – mit diesem Vergleich charakterisierte der Dichter Edvarts Virza (1883–1940) Teodors Zaļkalns‘ Steinskulpturen „Stehendes Mütterchen“ (Stāvošā māmiņa, 1915, Diorit, LNMM) und „Sitzendes Mütterchen“ (Sēdošā māmiņa, 1916–1923, Granit, LNMM), die als „richtungsweisende, einen stilistischen Wandel andeutende Werke in der Entwicklung der lettischen Bildhauerei zu betrachten sind“, wie die Kunstwissenschaftlerin Ruta Čaupova vermerkt. Diese während des Ersten Weltkrieges in Petrograd (heute St. Petersburg) entstandenen sinnbildlichen Figuren von Frauen auf der Flucht – schützend und schutzbedürftig zugleich – wurden zu Symbolen der Schicksalswege der lettischen Nation. Wie es in dem Lied „Tik un tā“ (So oder so) von Uldis Stabulnieks nach einem Gedicht von Māra Zālīte aus dem Jahr 1982 heißt, ist jedes der Mütterchen „zu groß, / um [sie] auf den Schoß zu nehmen / und zu liebkosen“, gleichzeitig jedoch „ein wenig zu klein, um [sie] allein / auf die weiten Wege der Welt zu entlassen“.
Um eine solche Verbindung von Monumentalem und Intimem, von Kraft und Verletzlichkeit zu erreichen, strebte Zaļkalns nach einer Formenklarheit, wie sie für seine frühe, von Auguste Rodin und Antoine Bourdelle beeinflußte Schaffensperiode untypisch war, sich jedoch in den Werken der 1910er Jahre herauszubilden begann. Über seinen damaligen Arbeitsansatz berichtete Zaļkalns: „In den 'Mütterchen‘ suchte ich ganz bewußt eine klare, […] kristallartige, schlichte, synthetisierte, kompakte Form. Ich baute sie wie ein Gebäude mit dezidierten Flächen und Linien, bei gleichzeitigem Verzicht auf alles weniger Bedeutsame.“ Diese Erfahrung stellt bereits eine Annäherung an seine in der zweiten Lebenshälfte kundgetane Erkenntnis dar, daß „der Aufbau der Struktur sich als Abfolge von Volumina im Zusammenspiel der geometrischen Komponenten – der Ebenen – der sie gestaltenden Oberfläche strukturiert und so einen Fluß der Figur erzeugt, ihren plastischen Verlauf“, wobei jedoch die unbewußten Grundprinzipien unserer kreativen Weltsicht „tief eingeschweißt im Wesen des Volkes liegen“ und sich nicht gänzlich einer Analyse unterwerfen. Sowohl in der Tektonik des „Stehenden Mütterchens“ als auch insbesondere des „Sitzenden Mütterchens“ ist ein Dialog mit der Formensprache der traditionellen lettischen Hausbauweise auszumachen, indem die Gestalt der Mutter spürbar mit der Vorstellung des Zuhauses in Verbindung gebracht wird. Zaļkalns selbst hegte 1916 während des Wartens auf ein auf der Flucht befindliches Mütterchen, das ihm Modell sitzen sollte, den Gedanken, daß „ihr freundliches Gesicht, die abgearbeiteten Hände und der schöne Faltenfall ihrer Kleidung vielleicht die leichtsinnige Seele eines Vagabunden zu einer noch schöneren Welt in Wallung versetzt als Untätigkeit, oberflächliches Geplauder, Koketterie und sogar das Kartenspiel.“ In Analogie zu den Steinskulpturen der alten Ägypter, die geschaffen worden sind, damit die Seele eines Gestorbenen wußte, wohin sie zurückkehren sollte, geriet Zaļkalns‘ „Mütterchen“ in der bildhauerischen Umsetzung zur Heimstatt, wo die vom Schicksal getriebene Seele des Volkes Zuflucht finden kann.
Teodors Zaļkalns (bis 1930 offiziell Grīnbergs; „Zaļkalns“ ist die Einlettischung von „Grünberg“), der aus der Gemeinde Allaži stammende Sohn eines Landwirts und Händlers, wird als der einflußreichste Begründer der lettischen Bildhauerschule geehrt und geachtet. Er war einer jener jungen lettischen Männer, die in den 1890er Jahren an verschiedenen St. Petersburger Kunsthochschulen studierten und sich in der Studentenverbindung „Rūķis“ (Zwerg, aber auch „fleißiges Kerlchen“) engagierten. Nach seinen Studien an der Zentralen Hochschule für Technisches Zeichnen des Barons Stieglitz mit einer Spezialisierung auf dekorative Malerei und Radierung entdeckte der junge Künstler während einer Paris-Reise im Jahr 1899 den Bildhauer in sich – unter dem Einfluß des Werks und der Persönlichkeit Auguste Rodins. Nach Besuchen in dessen Atelier wurde Zaļkalns zum begeisterten Rodin-Anhänger; in seinen Werken bis Anfang der 1910er Jahre war eine flüssig-malerische Formensprache mit unebener Fraktur sowie eine Tendenz zum Fragmentarischen und die Betonung emotionaler Stimmungen charakteristisch. Die „Mütterchen“-Skulpturen entstanden in einer Zeit, als sich Zaļkalns‘ Interesse an einer kompakten Geometrisierung der Form verstärkte, die ihren Höhepunkt in der Umsetzung von Lenins Plan der Monumentalpropaganda (die die Denkmäler des Zarenkults ersetzen sollte) im postrevolutionären Petrograd erreichte. 1920 ließ sich Zaļkalns dauerhaft in Lettland nieder; die hier entstandenen Portraits, Grabdenkmäler, Tierskulpturen und Werke anderer Genres spiegeln sein Verständnis für die Formensynthese wider. Von 1944 bis 1958 hatte Zaļkalns den Lehrstuhl für Bildhauerei an der Lettischen Kunstakademie inne, in dessen Studentenkreis 1947 seine Aufsatzsammlung „Das bildhauerisch Wesentliche“ (erschienen 1966) als eine Art Credo entstand.
Kristiāna Ābele, übersetzt von Matthias Knoll