Das Einzelgehöft wird von den Letten als der Drehpunkt der gesamten diesseitigen Wirklichkeit und die Kreuzungsstelle sämtlicher tagtäglichen Routinen imaginiert. Es kann gar als die spirituelle Zentrale für die Dauer des ganzen Lebenswegs eines Letten aufgefasst werden, denn das Bauerngehöft fungiert als ein Universum im Kleinmaßstab. Jede dieser Entitäten verfügt über einen Raumbezug, der sich vertrauensvoll den Urelementen der Natur unterordnet und sich nach dem Sonnenpfad richtet. Dem erwächst eine dingfeste Verbindung zwischen dem Raum und der Zeit, die den Halt für ein ganzes Leben geben mag.
Am Rande einer Hauptverkehrsstraße verweisen Briefkästen und handwerklich aus Holz geschnittene Namenstafeln auf die Existenz der Mehrheit dieser Höfe. An solchen Stellen zweigen dann kleine Waldwege scheinbar nach Nirgendwo im tiefsten Wald ab. Jedes dieser Gehöfte hat einen Namen, der nicht selten sagenumwoben vererbt worden ist. Doch schnell heißen einige Gehöfte gemeinsam bereits ein Dorf, wenn sie sich nicht in der Tiefe des Waldes glücklich verstecken können, sondern zwar durch weite Felder voneinander getrennt, doch weiterhin in Sichtweite liegen. Lediglich in der Latgale-Region im Südosten Lettlands kommen Dörfer in der Form vor, wie man sie auch im angrenzenden Russland, Polen bzw. Litauen kennt.
Das Gehöft hat sich in den langen Jahren der Fremdherrschaft und während der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzung als sicherer Rückzugsort bewährt. Das Gehöft etablierte sich als Gegenentwurf der Gutshäuser deutschbaltischen Landadels, der stets wirtschaftlich, rechtlich und politisch überlegen war. Auch galt dieses als Gegenpol im Verhältnis zu den für die im 19. Jahrhundert vorherrschenden Auswüchsen der Industrialisierung, der viele ehemalige Bauern ausgesetzt wurden, als sie massenweise nach der Aufhebung der Leibeigenschaft als Arbeitskräfte in die neuen Fabriken Rigas strömten.
Die Ausrufung der Republik (18.11.1918) ging mit der Agrarreform (1919–1937) Hand in Hand. Die traumatische Sehnsucht nach eigenem Grundbesitz, die durch Jahrhunderte der Leibeigenschaft der Letten geprägt war, wurde endlich Wirklichkeit. Viele Letten konnten – gegen alle Widerstände der deutschbaltischen Großgrundbesitzer – nun Bauern werden. Die Freiheit kam mit einer nie dagewesenen wirtschaftlichen Dynamik, die die Geltung vom Gehöft als eine identitätsstiftende Struktur verfestigte. Einen entscheidenden Anteil an dem das geistige Gefüge eines lettischen Gehöfts umgebenden Nimbus hatte der Schriftsteller Edvarts Virza (1883–1940). Mit dem – wie Virza selbst es beschrieb – in Prosa gedichteten Poem „Straumēni“ erschuf er eine ikonographisch hymnische Adoration auf das sozialphilosophische Konstrukt.
Dieses literarische Werk wurde während der sowjetischen Besatzung verboten. Die sowjetische Zwangskollektivierung (1946 bis ca. 1950) der Landwirtschaft, die mit Massenverschleppungen (Juni 1941, März 1949, rund 60 000 Opfer) und durch den Terror von KGB aufgedrängt wurde, zog nicht nur katastrophale wirtschaftliche Konsequenzen mit sich, sondern entriss dem lettischen Selbstverständnis ein fundamentales Attribut.
Die Gestaltungsweise eines Gehöfts, seine Größe und Struktur waren nie landesweit einheitlich. Ihre individuelle Beschaffenheit bestimmten sowohl die jeweilige Epoche, die Wirtschaftskraft als auch die regionalen Besonderheiten, die sogar in der näheren Nachbarschaft sich kenntlich machten. Jedoch verbindet sie alle eine von rationalen Überlegungen abgeleitete respektvolle Verbeugung vor der Übermacht der Schöpfung. Ihr Standort schützt sie sicher gegen die vorherrschenden Winde. Meistens befinden sie sich an Gewässern und in einer für Brunnen optimalen Lage, was sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht auf das Zusammenleben im Gehöft förderlich auswirkt. Das separat stehende Saunagebäude baute man verständlicherweise unweit eines Flusses, Teichs oder Sees, sofern diese sich in der Nähe befanden. Stößt man heutzutage auf die Reste der alten Fundamente, so liegen sie meistens auf einer Erhöhung und man kann gewiss sein, dass dieser Platz weit und breit für einen Hausbau am besten geeignet ist.
Die traditionellen Gehöfte befinden sich außerdem überwiegend in einer außerordentlich malerischen Landschaft. Die Ausrichtung der Bebauungsstruktur erstreckt sich auf einer Nord-Süd-Achse, wobei man die Darre mit Kornspeichern südlich des Wohnhauses platzierte, während man das Vieh möglichst entfernt in nördlicher Richtung unterbrachte. Beim Bau der Darre legte man Wert auf eine möglichst vorteilhafte Gebäudeausrichtung entsprechend dem Lauf der vorherrschenden Winde.
Die regionalen Unterschiede von Gehöften lassen sich teils durch die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten erklären. So waren die Bauern in der Region Semgallen (lett.: Zemgale) dank dortigen besonders fruchtbaren Böden stets solventer als der Rest Lettlands. Daher sind die Kornspeicher hier meistens großzügiger und verfügen über separierte Kammern, die eine getrennte Lagerung von unterschiedlichen Getreidesorten ermöglichten. Im südlichen Livland (lett.: Vidzeme) baute man wiederum nach Möglichkeit für jede Funktion bzw. einzelne Getreide- oder Kornsorten einen eigenen freistehenden Speicher. In Vidzeme war es ebenfalls üblich, dass die Darre auch als Gesindestube zur Anwendung kam. Man kam winters in der Tenne unter, während sommers man auch die Nebenräume und Anbauten bewohnen konnte. In Kurland (lett.: Kurzeme) organisierte man dagegen oft die Ställe und andere Betriebsräume unter einem Dach.
Ein gegenwärtig vorbildlich ressourcenschonend wirkender Umgang mit dem verfügbaren Raum zeichnet die lettischen Gehöfte aus. Die Gebäude sind effizient in ihrer Funktion ausgerichtet und dimensioniert. Aus dem Herrenhaus soll die freie Sicht auf sämtliche Betriebsgebäude des Hofs stets ermöglicht sein.
Die ältesten schriftlichen Nachweise von lettischen Gehöften stammen aus dem 10. Jahrhundert, die von Bauernbetrieben mit mehreren nach ihrer Funktion separierten Gebäuden berichten. Im 13. Jahrhundert eroberten deutsche Einwanderer als Folge der Livländischen Kreuzzüge (1198–1290) die von Balten besiedelten Gebiete heutigen Lettlands. So stellte die deutsche Oberschicht dann das Stadtbürgertum und die Großgrundbesitzer. Die unterworfenen Letten wurden zu ihren Leibeigenen, die für die Landnutzung Pacht erbringen mussten. Die Freiheiten als Freibauer bewahrten lediglich die Kurischen Könige (lett.: kuršu ķoniņi) bis in das 19. Jahrhundert. Es handelt sich um insgesamt sieben Sippen, über die Johannes Renner (1525–1583) wie folgt schreibt: „König ist ein Bauer aus Kurland, dessen Voreltern, als sie noch Heiden waren, Könige von Kurland gewesen sind; als aber das Land zum christlichen Glauben gezwungen wurde, da hatte das Königreich ein Ende, doch blieben die Erben und Nachkommen frei von allen Bürden“ (Livländische Historien, 1556–1561).
Das wirtschaftliche, politische und rechtliche Machtverhältnis blieb unabhängig von den sonst wechselnden Regentschaften grundsätzlich erhalten, das von der Verwaltungsautonomie des deutschbaltischen Adels getragen wurde. Die deutschbaltische Oberschicht waltete fast uneingeschränkt in Bezug auf Leib und Leben der lettischen Bauern. Gemessen daran ist es nicht verwunderlich, dass sich das Verfügungsrecht der Gutsherren auch auf die Gestaltung der Bauerngehöfte ausstreckte. Deswegen prägten auch die deutschbaltischen Ladherren die Gehöfte mit. Aus wirtschaftlichen Überlegungen erteilten sie bestimmte Auflagen. Nicht selten verbot man den Bauern das auf dem Markt stets liquide Blockholz zu verwenden und ordnete stattdessen den Einsatz von leichten Lehm- bzw. Heuziegeln als Baumaterial an. Dieses Material behielt jedoch den Charakter einer Ausnahmeerscheinung. Aus eigenen ökonomischen Überlegungen bestanden die Gutsherrn auf gemauerte Fundamente, die die Lebensdauer der Bauwerke am Gehöft tatsächlich deutlich verlängerten. Die nun an den Gehöften weit verbreiteten Obstgärten waren ebenfalls ursprünglich eine marktgetriebene Initiative von Gutsherren. Sie leiteten solche Modernisierungsinitiativen wie den Einbau von modernen Heizsystemen ein. Dennoch vermutet man, dass die offene Feuerstelle als Heizung erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrheitlich durch Öfen mit einem Schornsteinabzug ersetzt wurde.
Die Verwaltungsautonomie der Deutschbalten führte zu einem historischen Vorteil für die Letten sowie Esten. Die deutschbaltische Oberschicht beugte sich nämlich dem wachsenden Druck der europäischen Öffentlichkeit sowie dem in Folge der Industrialisierung wachsenden Bedarf nach Arbeitern in den Städten. Deswegen unterstützte sie die endgültige Abschaffung der Leibeigenschaft in den von ihr verwalteten Ostseegouvernements des russischen Zarenreichs. So wurden die Letten etwa 50 Jahre vor anderen Untertanen der russischen Krone aus der Leibeigenschaft entlassen (Kurland – 1817, Livland – 1819). Das ermöglichte die ersten Ansätze eines freien Immobilienmarktes. Ein Teil der nun freien, doch landlosen Bauernschaft migrierte in die nach neuen Arbeitskräften hungrigen Industriestädte. Doch eine nicht unwesentliche Zahl der ehemals Leibeigenen konnte mit überlegten Investitionen in die Landwirtschaft zum Wohlstand bringen.
Die rechtlichen und wirtschaftlichen Tendenzen erklären im Kontext weiterer allgemein vorherrschenden kulturellen oder gesellschaftspolitischen Strömungen wie die Romantik und das Erste Nationale Erwachen (1850–1880), warum ein solches Konstrukt wie das lettische Gehöft eine derart identitätsstiftende Rolle in der Entwicklung der Letten zu einem Staatsvolk und darüber hinaus entwickelte. Insbesondere bedeutsam war hier die Agrarreform der 1920er Jahre, die rund 150 Tausend Letten zum Landbesitz verhalf. Die sowjetische Besatzung mit der Zerstörung der in der Unabhängigkeitsperiode erschaffenen ländlichen Infrastruktur bedeutete sofern den Kollaps sämtlicher Träume. Die kapitalistische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte bewies die Effizienzvorteile von Agrargroßbetrieben, die man in Lettland aus der Vorherrschaft der deutschbaltischen Großgrundbesitzer kennt. Jedes Jahr wird eine Vielzahl an historischen Einzelgehöften verlassen und im Interesse von Agrargroßunternehmen in maschinell zu bearbeitende Agrarflächen umgewandelt.
Die alte Sehnsucht nach einer von der Struktur und Gestalt eines Gehöfts vorgegebenen neuen Zeitdimension lebt nun häufig in einer modifizierten Form als Land- und Sommerhäuser der urbanen Mittelschicht weiter oder dient als Familienrückzugspol der digitalen Nomaden, die aus einem landschaftlich einzigartig platzierten Nirgendwo ihre Geschäfte weltweit online abwickeln.
Die liebevoll gepflegten und aus ganz Lettland zusammengeführten archetypischen Gehöfte (2. H. 17. Jh. – 1930er Jahre) aus allen Ecken Lettlands kann man in dem 1924 gegründeten Lettischen Ethnographischen Freilichtmuseum besichtigen. Das Museum ist auf Initiative des Architekten Pauls Kundziņš (1888–1983) entstanden.
Roberts Putnis