Das Lettische Nationaltheater ist ein stabiler Grundwert der lettischen Kultur. In verschiedenen Zeiten seit der Gründung 1919 hat das Theater unterschiedliche Namen, Repertoires und Aufführungen erlebt, aber die starke Schule des psychologischen Theaters und die einzigartige Truppe haben alles überstanden. Als der Schauspieler und Regisseur Alfreds Jaunušans von 1966 bis 1987 der künstlerische Leiter des Nationaltheaters war (das damals das Akademische Dramatische Theater der LSSR war und 1971 nach dem Schriftsteller Andrejs Upītis benannt wurde), erlebte das Theater seine goldenen Jahre: Die ZuschauerInnen schwärmten von SchauspielerInnen mehrerer Generationen und standen oft schon am Vortag schlange vor der Kasse. Während der sowjetischen Besatzungszeit wurde das Theater zu einem Tempel, in dem ZuschauerInnen eine moralische Befriedigung empfinden konnten. Im Mittelpunkt mehrerer Aufführungen von Alfreds Jaunušans standen Abenteurer, Rebellen und Künstler, die die ZuschauerInnen außerhalb des sowjetischen Alltags führten.
Der Leiter des Dramatischen Theaters Alfreds Jaunušans (1919–2008) war Schauspieler, Regisseur und Pädagoge. Er hatte ein außergewöhnliches schauspielerisches Talent, das sowohl in eine tief dramatische als auch eine besonders komische Richtung ging. Auf der Bühne zeigte er feuriges Temperament, Improvisationsfähigkeit, feinen Humor und eine lebhafte Fantasie. Seine Rollen als Schneidergeselle Rūdis in der Aufführung von „Schneidertage auf Lüttwaldenhof“ (Skroderdienas Silmačos) von Rūdolfs Blaumanis (1955, Regisseur Alfreds Amtmanis-Briedītis) und als Ķencis in der ersten Verfilmung des in den Kulturkanon aufgenommenen Romans „Die Landmesserzeit“ der Gebrüder Kaudzīte (1968, Regisseur Voldemārs Pūce) gelten als legendär.
Einen großen Beitrag leistete Alfreds Jaunušans zur Zusammenstellung der Schauspieltruppe des Nationaltheaters. Er war am Unterricht mehrerer Jahrgänge von Schuaspielern des Nationaltheaters beteiligt. Zu seinen Auszubildenden gehören u. a. Uldis Dumpis, Rihards Rudāks, Lāsma Kugrēna, Voldemārs Šoriņš, Gunta Virkava, Iveta Brauna und Jānis Skanis. Mehrere von diesen SchauspielerInnen sind noch heutzutage Teil der Truppe, und Rihards Rudāks war einer der leitenden SchauspielerInnen im Theater der Gleichgesinnten von Oļģerts Kroders in Valmiera, das ebenfalls in den Kulturkanon aufgenommen worden ist. Unter der Leitung von Alfreds Jaunušans kamen mehrere Stars der lettischen Bühnenkunst ans Licht, z. B. Velta Līne, Elza Radziņa, Kārlis Sebris, Lidija Freimane und Antra Liedskalniņa. Um die schauspielerische Qualität zu steigern, wurden unter der Leitung von Jaunušans Aufführungen in Sitzungen besprochen, an denen die ganze Truppe unbedingt teilnehmen sollte und in denen die SchauspielerInnen die Leistung anderer analysierten.
Jaunušans war seit 1963 als Regisseur tätig. Mehrere seiner Aufführungen sind Teil des Goldenen Buchs der lettischen Theatergeschichte, das die hervorragendsten und wichtigsten Momente der lettischen Theaterszene umfasst. Besonders hervorzuheben ist die Aufführung von 1971 von Ferenc Molnárs „Liliom“; die Hauptrolle des romantisierten Rebellen Liliom wurde von Uldis Dumpis un Ģirts Jakovļevs dargestellt. Das Lied „Atkal, atkal ir debesis pušu“ (Schon wieder ist der Himmel kaputt) des Komponisten Imants Kalniņš und Dichters Māris Čaklais ist zur Hymne des Nationaltheaters geworden.
Eine der höchsten Leistungen von Jaunušans als Regisseur ist die Aufführung von 1969 von Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“, in der die in den Kulturkanon aufgenommene Schauspielerin Antra Liedskalniņa Blanche darstellte. Die Aufführung wurde zwölf Jahre lang gespielt, und Blanche wurde zur Lebensrolle von Antra Liedskalniņa. Im Mittelpunkt des Dramas liegt der Konflikt zwischen der psychologisch instabilen Träumerin und Idealistin Blanche DuBois und ihrem Schwager, dem starken, attraktiven, aber auch robusten und unbarmherzigen Stanley Kowalski. Jaunušans und Liedskalniņa interpretierten die Aufführung als einen tragischen Ruf nach zwischenmenschlichem Verständnis und Mitgefühl.
Zu ausgezeichneten Ereignissen der Theaterkunst wurden auch andere Aufführungen von Jaunušans, z. B. „Süßer Vogel Jugend“ von Tennessee Williams (1977 aufgeführt) und „Lorenzaccio“ von Alfred de Musset (1973 aufgeführt).
Dank seiner Aufführungen der 1980er Jahre auf der Freilichtbühne verwandelte Alfreds Jaunušans das Theater in ein Volksfest, an dem Tausende teilnahmen. Das 1986 auf der Freilichtbühne in Druviena aufgeführte Drama „Schneidertage auf Lüttwaldenhof“ wurde in zwei Tagen von 16.000 ZuschauerInnen besucht und leitete durch das gemeinsam verspürte Einigkeitsgefühl das Dritte Nationale Erwachen ein.
Jaunušans ist u. a. derjenige, der mit seinen Interpretationen von „Schneidertage auf Lüttwaldenhof“ (im Theater 1975, auf der Freilichtbühne 1986 aufgeführt) die Tradition der Aufführungen des Werkes zu jedem Saisonende begründete. Die Vorstellung von „Schneidertage auf Lüttwaldenhof“ hat auch eine der wichtigsten lettischen Traditionen – das in den Kulturkanon aufgenommene Feiern des Johannisfestes (Jāņi) – beeinflusst. Heutzutage finden Vorstellungen mit verschiedenen Truppen zum Johannisfest auf Freilichtbühnen statt. Zudem wird das Werk auch bei privaten Veranstaltungen aufgeführt.
Das Credo von Alfreds Jaunušans sein Leben lang war die Aussage seines Vorgängers, des Schauspielers und Regisseurs Alfreds Amtmanis-Briedītis: „den Menschen für das Theater und im Theater bewahren, dann lebt das Theater ewiglich“. 2004 verabschiedete sich Jaunušans mit der Aufführung der Komödie „Sensation“ (Sensācija) auf der umgebauten Bühne von seinem Theater. Neben den SchauspielerInnen der jüngeren und mittleren Generation waren auch Zeitgenossen von Jaunušans dabei, u. a. Velta Līne und Kārlis Sebris.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka