Das Hochland von Vidzeme (Livland) ist eine abwechslungsreiche Endmoränenlandschaft. Zwischen dem Gauja-Nationalpark und Latgale liegt diese malerische Landschaft mit Wäldern, Tälern und Hügeln, der höchste davon ist Gaiziņš inmitten eines Naturparks. Aber auch andere Hügel erstrecken sich über die Gegend, z.B. Sirdskalns, Abrienas kalns, Nesaules kalns, Viešūrkalns, Dravēnu kalns, Bolēnu kalns.
Die Landschaft ist geprägt durch Einzelgehöfte und weiße, von Bäumen gesäumte Schotterwege.
Ehemalige Gutshöfe des deutschbaltischen Landadels befinden sich an den Seen. In der Mitte des Hochlands von Vidzeme liegen Inesis und Alauksts. Im Süden des Hochlands, unweit der Stadt Madona beginnen bereits die wasserreichen Landschaften Latgales. Dort liegen das Naturschutzgebiet Teiči, das größte Hochmoor des Baltikums und der größte See Lettlands, der Lubāns.
Viele für Lettland wichtige Kulturstätten und Museen befinden sich in der besonders schönen Gegend um Vecpiebalga. Hier lebten und wirkten Künstler und Intellektuelle, die Bedeutendes zur Selbstfindung der lettischen Nation beigetragen haben.
Auf halber Strecke zwischen Jaunpiebalga und Vecpiebalga kommt man zum Schulhaus Jāņskola, dem ersten der drei Kulturmuseen der Region. Es zeigt Exponate zum Leben und Werk des Komponisten Emīls Dārziņš (1875–1910) und eine dem Dichter Jānis Sudrabkalns (1894–1975) gewidmete Ausstellung. In Vecpiebalga wurde der lettische Schriftsteller Kārlis Skalbe (1879–1945) geboren. In seinem früheren Wohnhaus „Saulrieti“, das romantisch am Ufer des Alauksts-Sees gelegen ist, befindet sich ein ihm gewidmetes Museum. Seine Märchen kennt in Lettland jedes Kind, viele davon sind auch ins Deutsche übersetzt. Sein Gedicht „Nemiers“ (1906) wurde von Emīls Dārziņš vertont und als Lied „Mūžam zili ir Latvijas kalni“ (Ewig blau sind Lettlands Hügel) gehört es zum Standardrepertoire des Lettischen Sängerfestes mit etwa 30 000 Teilnehmern, Chören, Musikern und Tänzern aus dem ganzen Land.
Nördlich des Skalbe-Museums befindet sich in Vēveri das Freilichtmuseum mit den traditionellen Bauernhöfen, die harmonisch in die Landschaft eingebettet sind.
Das dritte Literaturmuseum Kalna Kaibēni ist auch das älteste. Es befindet sich am inselreichen Inesis-See südwestlich von Vecpiebalga. In diesem Haus wirkten die Brüder Reinis und Matīss Kaudzīte, die mit dem Werk „Die Landvermesserzeiten“ (1879, 2012 ins Deutsche übersetzt) den lettischen Roman begründeten. Das Haus ist so erhalten geblieben wie in den Zeiten der Kaudzītes mit einer für Vidzeme typischen Glasveranda und Sauna. Im Garten stellen Holzfiguren die in allen Generationen beliebten Hauptfiguren des Romans dar.
Die für Vidzeme typischen evangelisch-lutherischen Kirchen prägen diese Landschaft architektonisch und kulturell. Eine der schönsten von ihnen, die Kirche des Heiligen Thomas befindet sich in Jaunpiebalga unweit des Hauses, in dem die Brüder Kaudzītes und auch der Maler Kārlis Miesnieks (1887–1977) lebten. Auch Emīls Dārziņš lernte hier Orgel spielen. Die Kirche wurde 1804 eingeweiht und 1873 nach Plänen von Mathias von Holst umgebaut.
Weiter in Richtung Ērgļi am Oberlauf des Flusses Ogre befindet sich das renovierte Gutshof Cirsti im Stil der Neugotik des roten Backsteins, ein schönes Beispiel für Schlösser und Herrenhäuser in Lettland, in denen fast 700 Jahre lang der deutschbaltische Adel residierte. Südlich von Cirsti in Richtung Ērgļi befindet sich ein weiteres schönes Herrenhaus im Stil des Historismus in Jumurda.
Ērgļi war die Heimatstadt von Rūdolfs Blaumanis (1863–1908), dem Begründer der lettischen psychologischen Novelle, der auch ein hervorragender Dramatiker war. Das Haus seiner Kindheits- und Jugendjahre Braki ist heute ein Museum und gleichzeitig ein schönes Beispiel für lettische Einzelgehöfte. Alle Gebäude des Hofes sind restauriert und sehen aus wie Anfang des 19. Jahrhunderts, als der Hof zum ersten Mal in historischen Quellen erwähnt wird.
Ein weiteres kleines Museum ist im Haus Menģeli am See östlich des Ortes untergebracht, in dem die Familie Jurjāns lebte. Von den neun Kindern der Familie Jurjāns leisteten vier im späten 19. Jahrhundert bedeutende Beiträge zur klassischen Musik Lettlands, der bekannteste von ihnen ist der Komponist vieler Instrumentalstücke und Kantaten Andrejs Jurjāns (1856–1922). Alljährlich findet am Museum ein Chorfestival statt.
Etwa 15 Kilometer östlich von Ērgļi liegt in Richtung Madona der Ort Vestiena. An den Ufern des Kāla-Sees stehen schöne Tannen- und Birkenwälder. Auch die kuppelartigen Inseln des Sees sind mit Wäldern bewachsen. Die Reste eines Gutshofs mit einem unter Denkmalschutz stehenden Pferdestall aus dem 18. Jahrhundert sind ebenfalls in Vestiena zu sehen. Im Ilziņš-See gibt es am nordwestlichen Ende eine 60 Meter vom Ufer entfernte Insel, die alle 20 Jahre auftaucht. Sie hat sich aus Moos- und Torfablagerungen gebildet, die das Gewicht des sie umgebenden Wassers haben.
Von Vestiena aus kommt man zum Gaiziņš, dem mit 312 Meter höchsten Berg Lettlands mit einem Skilift. Zum Naturpark Gaiziņkalns gehört auch der See Viešūrs, dessen Inseln nur bei Niedrigwasser zu sehen sind.
Unweit der Stadt Madona mit ihren 30 Burgbergen, die von der altlettischen Kultur zeugen und von den Kreuzrittern des Livländischen Ordens geschliffen wurden, befindet sich das Naturreservat Teiči. Das größte Hochmoor des Baltikums ist eine einzigartige, von Menschen kaum berührte Naturlandschaft. Hochmoore entstehen, wenn Seen von ihren Rändern her mit Torfmoosen zuwachsen. Die entstehende Pflanzenschicht ist leichter als Wasser, legt sich über den ehemaligen See, und es entstehen meterdicke Torfschichten. Inseln treiben in noch offenen Wasserflächen und haben in der Regel keinen festen Standort. Auf der bis zu neun Metern dicken Torfschicht wurden 212 unterschiedliche Moosarten gefunden. In der praktisch unberührten Natur leben noch Wölfe, Braunbären und Luchse. Es gibt eine erstaunliche Vielfalt an Amphibien. Die charakteristische Landschaft des Hochmoors mit Moorbirken, Zwergkiefern und Beeren ist zu Zeiten des Vogelzugs besonders interessant. Je nach Jahreszeit sind hier viele seltene Vogelarten wie Schwarzstorch, Schreiadler, Steinadler, Bruchwasserläufer und Birkhahn zu sehen. Auf der Insel Siksala liegt ein ehemaliges Dorf orthodoxer Altgläubiger. Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Anhänger dieser Konfession von der russisch-orthodoxen Kirche in Novgorod verfolgt und fanden hier Asyl.
Auch das südlich von Madona liegende Naturschutzgebiet Krustkalni ist reich an Landschaftsformen, z.B. Mischwälder, Sümpfe und Seen.
Nordöstlich des Naturschutzgebietes Teiči liegt der zeitweise größte See Lettlands, der Lubāns. Im Frühjahr nimmt der See eine Fläche von etwa 80 Quadratkilometern ein, in trockenen Sommern schrumpft er auf 35 Quadratkilometer. Die Grenze zwischen dem See und den Sumpfgebieten ist schwer auszumachen, denn die durchschnittliche Wassertiefe beträgt nur 40 Zentimeter. Rund um den See wurden etliche Aussichtstürme zur Vogelbeobachtung gebaut.
Nördlich von Madona, in Cesvaine, befindet sich eines der schönsten Gutshäuser des Baltikums. 1897 ließ Baron von Wolff es nach Entwürfen des Berliner Architekten Hans Grisebach erbauen. Das Schloss ist eine einzigartige Fusion aus Stilelementen der Romantik und der Renaissance. Rund um das Schloss erstreckt sich ein Landschaftspark mit 70 verschiedenen Baum- und Straucharten, durch den sich der Fluss Sūla mit seinen Steilufern windet. Unweit vom Jagdschloss liegen die Burgruinen eines Erzbischofssitzes.
Das imposanteste Gebäude des weiter nördlich gelegenen Gulbene ist der 1926 erbaute Bahnhof. Dort fährt eine Schmalspurbahn ins 33 Kilometer entfernte Alūksne. Es geht durch abwechslungsreiche Landschaften, man kommt mit der Bahn auch zum Gutshof Stāmeriena, der einer der schönsten des Landes ist. Wie Cesvaine wurde das Gebäude in Stāmeriena von Baron von Wolff erbaut, in eklektizistischem Stil mit vielen neugotischen Elementen. Bei der Bepflanzung des Landschaftsparks wurde darauf geachtet, dass die Herbstfarben der exotischen und einheimischen Bäume einen möglichst deutlichen Kontrast bilden. Am Ufer des Stāmeriena-Sees steht seit 1904 eine sehr schöne russisch-orthodoxe Kirche.
Das Hochland von Vidzeme ist Teil mehrerer Naturschutzprogramme, darunter auch Natura 2000 der Europäischen Union.
Ilze Plaude