Instrumentalopus "Der melancholische Walzer", 1904, für Sinfonieorchester des Komponisten Emīls Dārziņš (1875–1910)

Der verträumt mäandernde, siebenminütige sinfonische Walzer, den Dārziņš 1904 bei einem Besuch im Landhaus des Dichters Jānis Poruks komponierte, wurde mit den fließenden Linien der Jugendstilarchitektur dieser Zeit verglichen. Zu einer Zeit geschrieben, als sich eine lettische Intelligenz aus der feudalen Unterdrückung befreite, wurde er zu einem Grundstein der lettischen sinfonischen Musik.

Das Werk wurde im Herbst 1905 im Küstenort Jūrmala uraufgeführt und liegt seither den lettischen Musikliebhabern sehr am Herzen. Ursprünglich ist es ein Orchesterstück, doch wurde es mehrfach – mit respektablen Ergebnissen – für Soloinstrumente und Gesang bearbeitet. „Der melancholische Walzer“ wird seinem Namen nur teilweise gerecht, denn die allgemeine Intonation des Stücks in A-Dur ist hell und träumerisch; eine etwas stürmischere Unruhe kommt in dem Teil in fis-Moll auf. Insgesamt ruft die Stimmung der Musik durchaus Melancholie hervor und weist zahlreiche Parallelen zum unruhigen Leben des Komponisten auf.

Emīls Dārziņš wurde als Kind zweier Lehrer in Jaunpiebalga in der Region Vidzeme geboren und litt infolge von Überbelastung und einer Krankheit ab dem Alter von drei Jahren unter schlechtem Sehvermögen. Nachdem er ein Studium am Moskauer Konservatorium aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen hatte, musste er auch sein Studium am St. Petersburger Konservatorium 1901 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten abbrechen. Im Frühjahr 1901 kehrte er ohne abgeschlossenes Studium nach Riga zurück und begann, von der Leidenschaft angetrieben, die lettische Musikkultur zu fördern, seine Tätigkeit als Musikkritiker, Pädagoge, Dirigent und Pianist. Doch obwohl seine Werke von Kritikern und Publikum gut aufgenommen wurden, hatte Dārziņš sein Leben lang mit Armut zu kämpfen. Er verdiente sich seinen Lebensunterhalt hauptsächlich als Musiklehrer und Musikkritiker und gilt in Lettland als talentierter Pionier des letzteren Berufs.

Nachdem er 1910 von seinem Kollegen Pāvuls Jurjāns (1866–1948) des Plagiats bezichtigt worden war, zerstörte Dārziņš alle seine sinfonischen Werke. Einzig die Partitur des „Melancholischen Walzers“ wurde später aus Orchesterstimmen rekonstruiert. In der Nacht des 31. August 1910 wurde er im Alter von 34 Jahren in der Nähe des Bahnhofs Zasulauks in Riga von einem Zug erfasst. Es blieb ungeklärt, ob es sich dabei um einen Unfall oder Suizid handelte. Emīls Dārziņš ist auf dem Friedhof der St.-Martinskirche im Rigaer Bezirk Āgenskalns beerdigt.

Obwohl sein musikalisches Erbe mit 19 Sololiedern und 17 Chorliedern nicht sehr umfangreich ist, sind die meisten seiner Werke sehr bekannt und werden häufig aufgeführt. Seine bekanntesten Chorlieder „Ewig blau“ (Mūžam zili) und „Die gebrochenen Kiefern“ (Lauztās priedes) wurden in dem Jahrhundert nach seinem Tod zu wichtigen Kultursymbolen und bei vielen lettischen Sängerfesten gesungen. 2015 gab die lettische Zentralbank eine 5-Euro-Gedenkmünze heraus, die dem „Melancholischen Walzer“ gewidmet ist.

David Stasun