Helēna Tangijeva-Birzniece ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten des lettischen Balletts. Am Anfang ihrer Karriere war sie eine technisch ausgezeichnete Balletttänzerin und sogar eine der ersten, die das lettische Ballett in Westeuropa vertrat. Sie war eine Choreographin, die sich gleichzeitig mit klassischen Werken und zeitgenössischen Tendenzen auskannte; eine Pädagogin, die mehrere Ballettstars ausgebildet hatte und spätere Generationen in der Mitte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste. In ihren Werken interpretierte Helēna Tangijeva-Birzniece erfolgreich Elemente des lettischen Volkstanzes und schuf durch ihre Tätigkeit als eine der HauptleiterInnen des ersten Tanzfestes die in Lettland verbreitete Kultur von Volkstanzgruppen.
Helēna Tangijeva-Birzniece wurde in St. Petersburg in einer aristokratischen Familie geboren und im klassischen russischen Ballett ausgebildet. 1924 absolvierte sie die Ballettschule in Petrograd, heutigem Sankt Petersburg. Sie lernte auch bei ausgezeichneten Ballettlehrerinnen, darunter Olga Preobraschenskaja (1871–1962), Agrippina Waganowa (1879–1951), die die im Ballett bekannte Waganowa-Methode begründete, und Jekaterina Wasema (1848–1937), deren Schülerin auch die berühmte Tänzerin Anna Pawlowa (1881–1931) war. Tangijeva-Birzniece war 1924 bis 1927 Solotänzerin des Opern- und Balletthauses Leningrad (heutiges Sankt Petersburg). Nachdem sie den lettischen Diplomaten Aleksandrs Birznieks (1882–1961) geheiratet hatte, zog sie nach Lettland um und wurde Solotänzerin der Lettischen Nationaloper (1927–1937).
Helēna Tangijeva-Birzniece war eine technisch hervorragende Tänzerin, und ihr Talent glänzte besonders in kleineren Ballettaufführungen. Sie hatte u. a. die Rolle von Aina im ersten lettischen Ballett – „Sieg der Liebe“ (Mīlas uzvara, 1935) von Jānis Mediņš (1890–1966). Sie war unter den ersten BalletttänzerInnen Rigas, die schon in den 1930er Jahren verschiedene Städte in Westeuropa besuchten, darunter Brüssel, Antwerpen, Helsinki und Stockholm, und somit Lettland repräsentierten. Wegen Tuberkulose war sie nicht in der Lage, ihre Karriere als Tänzerin fortzusetzen, aber sie bewies ihr Talent auch bei anderen Balletttätigkeiten.
Schon früh widmete sie sich der Pädagogik. Sie lehrte 1925 bis 1927 an der Tanzschule Leningrad (1925–1927) und eröffnete in Lettland ihre eigene Ballettschule, die sie von 1928 bis 1944 mit Unterbrechungen leitete. Zudem war sie Pädagogin und künstlerische Leiterin der Balletttruppe der Lettischen Nationaloper. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie 20 Jahre lang – 1945 bis 1965 – an der Tanzfachschule Riga tätig. In dieser Zeit lernten bei ihr mehrere Generationen von jungen TänzerInnen in Lettland. Mit Unterbrechungen leitete sie das Rigaer Ballett als Ballettmeisterin (1934–1937) und später Hauptballettmeisterin der Lettischen Nationaloper (1945–1952, 1956–1965). Sie war inzwischen auch die Ballettmeisterin des Musikalischen Komödienhauses der LSSR (1952–1956).
In ihrer Rolle als Choreographin arbeitete Helēna Tangijeva-Birzniece an sechs Interpretationen von klassischen Ballettstücken, neun Lang- und sechs Kurzballetten sowie an der Choreographie von Opern und Operetten. Die eindrucksvollste Aufführung eines klassischen Balletts war das 1936 inszenierte „Le corsaire“ von Adolphe Charles Adam (1803–1856): der Dirigent war Jānis Kalniņš (1903–1990), der Bühnen- und Kostümbildner – Ludolfs Liberts (1895–1959). Die Aufführung wurde nach dem Muster des Marientheaters in Sankt Petersburg und des klassischen russischen Balletts konzipiert. Tangijeva-Birzniece debütierte mit dem Stück, das ihr und den lettischen BalletttänzerInnen großen Erfolg brachte, als Ballettmeisterin. Gastspiele an der Königlichen Oper in Stockholm wurden mit großer Begeisterung aufgenommen, und der Ballettmeisterin von „Le corsaire“ wurde die Goldmedaille „Literis et artibus“ verliehen.
1947 inszenierte sie ihr erstes lettisches Ballett „Laima“ (Musik von Anatols Liepiņš), indem sie das klassische Ballett und den lettischen Volkstanz zusammenbrachte. Die Titelrolle wurde von Anna Priede (1920–2007) getanzt, einer der hervorragendsten lettischen Balletttänzerinnen, deren bedeutsame Ratgeberin Tangijeva-Birzniece war. Mehrere Tänze aus diesem Ballett zählen zu den berühmtesten lettischen Volkstänzen und sind heutzutage Teil des Repertoires von einigen Tanzgruppen und von großen lettischen Tanzfesten.
Zu den choreographischen Erfolgen von Helēna Tangijeva-Birzniece zählt auch das 1958 aufgeführte, vom spanischen Temperament geprägte Kurzballett „Bolero“ von Maurice Ravel (1875–1937). Als Klassik des lettischen Balletts gelten auch zwei von ihr geschaffene Miniaturen mit ausgezeichneter lettischer Musik – die symphonische Suite „Edelsteine“ (Dārgakmeņi) von Jāzeps Vītols und das in den Kulturkanon aufgenommene Stück „Melancholischer Walzer“ (Melanholiskais valsis) von Emīls Dārziņš.
1957 inszenierte Helēna Tangijeva-Birzniece das Ballett „Donauwalzer“ des „Walzerkönigs“ Johann Strauss. Die Aufführung wurde später mehrmals erneuert. 2017 wurde das Stück am Lettischen Nationalen Opern- und Balletthaus zum 110. Geburtstag von Tangijeva-Birzniece aufgeführt.
In ihren Aufführungen tanzten und vervollkommnetten sich die wichtigsten lettischen BalletttänzerInnen des 20. Jahrhunderts: Anna Priede, Mirdza Griķe (1915–2008), Velta Vilciņa (1928–1995), Ināra Gintere (Jahrgang 1934), Ausma Dragone (Jahrgang 1942), Ināra Ābele (Jahrgang 1943), Sarmīte Jakse, Arvīds Ozoliņš (1908–1996), Haralds Ritenbergs (Jahrgang 1932) und der in den Kulturkanon aufgenommene Balletttänzer und -meister Aleksandrs Lembergs (1921–1985), ein guter Freund und Gleichgesinnter von Tangijeva-Birzniece.
Sie trug auch maßgeblich zur Entwicklung des lettischen Bühnentanzes bei. Als Leiterin der Staatlichen Gesang- und Tanztruppe der Lettischen SSR führte sie neue Tänze auf, z. B. „Die lettische Tanzsuite“ (Latvju deju svīta) und „Den kleinen Tanz“ (Sīkais dancis). Helēna Tangijeva-Birzniece war die Hauptleiterin des ersten Tanzfestes 1948 und später auch die Ehrenleiterin.
Seit 1996 wird für herausragende Beiträge zur Ballettkunst ein nach ihr benannter Preis verliehen. 2007 wurde zum Geburtstag der ausgezeichneten Balletttänzerin und -meisterin, Pädagogin und Choreographin der Dokumentarfilm „Tangijeva. Bravo“ vom Regisseur Roberts Rubīns gedreht.
Maija Treile, übersetzt von Ženija Minka