Das Lieder- und Tanzfest

Ein Höhepunkt des Liederfests ist der traditionelle Festumzug in Riga mit sämtlichen Teilnehmergruppen aus ganz Lettland und lettischen Folkloregruppen aus vielen Teilen der Welt. Der letzte Tag des Liederfests steht ganz im Zeichen der beiden Abschlusskonzerte: ein Volkstanzfest im Daugava Stadion mit über 10.000 Teilnehmern und das abschließende große Chorkonzert auf der 1955 eigens für die Liederfeste gebauten Freilichtbühne in Mežaparks (deutsch: Kaiserwald) mit ebenso vielen Teilnehmern.

Die Lieder- und Tanzfeste haben ihren Ursprung im 19. Jahrhundert in Westeuropa genommen, wo die ersten gemeinsamen Singfeste organisiert wurden. Während diese kulturelle Tradition in den westlichen Ländern mit der Zeit ausstarb, wurde sie insbesondere in den Ländern des Baltikums fortgeführt und im Laufe der Jahrzehnte zu einem wachenden Ausdruck des Nationalbewusstseins. Die ursprünglichen Volkslieder von Musikern wie Kārlis Baumanis (1835–1904) oder Jānis Cimze (1814–1881) wurden in die Chormusik übernommen und somit ein Teil der lettischen Chorkultur. Die 1868 gegründete Lettische Gesellschaft Riga organisierte 1873 ebendort das erste Allgemeine Liederfest. Von den ersten Gesangvereinen über die Zarenzeit, die Zeit der Republikgründung und die Okkupation nach dem Zweiten Weltkrieg bis hin zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit, der so genannten Singenden Revolution, trugen Lieder die Idee eines nationalen Bewusstseins und den Wunsch nach einem unabhängigen Lettland weiter.

Seit 1948 bilden Chöre und Tanzgruppen den Kern der Liederfeste, seit 1960 finden regelmäßig Lieder- und Tanzfeste für Kinder und Jugendliche statt. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich das Liederfest zu einer vielseitigen Veranstaltung entwickelt. Die Chormusik steht nach wie vor im Mittelpunkt der Festtage. Hinzu kamen andere Bereiche der Volkskunst wie Volkstanz, Instrumentalmusik, Blasorchester, Koklespieler, Kunsthandwerk, Volkstheater und andere Kultursphären.

Das Wesen der lettischen Lieder- und Tanzfeste versuchte der langjährige Oberdirigent Haralds Mednis (1906–2000) folgendermaßen zu beschreiben: „Wenn wir gemeinsam singen, dann sind wir anders – wir vertrauen dem, der neben uns singt. Wir kämpfen für eine gemeinsame Idee. Das Lied hat eine Kraft, ohne die kein Volk und keine Zeit auskommen kann – es ist der beste Teil des Menschen.“ Die Feste werden bis heute als intensiver Ausdruck der Verbundenheit aller Letten aufgefasst. Dies zeigt sich auch in den stets wiederkehrenden Liedern wie die Ballade „Das Schloss des Lichts“ (Gaismas pils) von Jāzeps Vītols (1863–1948), „Saule, Pērkons, Daugava“ (deutsch: Sonne, Donner, Daugava) von Mārtiņš Brauns und Liedern von Emils Melngailis (1874–1954). Der Zauber und die Kraft des Chorgesangs auf der Festbühne des Liederfests ist in verschiedenen Aufnahmen auf Videoplattformen im Internet nachvollziehbar. Im Jahr 2003 wurden die Lieder- und Tanzfeste der baltischen Länder in die Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit der UNESCO aufgenommen und in einen Kontext mit anderen Traditionen weltweiter Bedeutung gestellt.

Das XXVI. Lieder- und Tanzfest von 2018 vereinte 43.000 Teilnehmer, die größtenteils in 1.800 Chören und Folkloregruppen organisiert waren. Insgesamt beteiligten sich Gäste aus 22 Nationen. Die lettischen Chöre und Volkstanzgruppen durchlaufen vor ihrer Teilnahme einen strengen Bewertungsprozess. Sie werden dann entsprechend ihren Ergebnissen bei den großen Abschlusskonzerten aufgestellt und eingesetzt. Seit 2014 ist der Abschlusstag der Festwoche ein nationaler Feiertag.

Jens Grabowski