Das Bild „Flüchtlinge“ („Bēgļi“) von Jēkabs Kazaks, das im Lettischen Nationalmuseum der Künste hängt, ist die ausdrucksstärkste und monumentalste Darstellung der lettischen Kriegsflüchtlinge in der Malerei. Ohne unnötiges Pathos stellt er mit diesem lakonischen Portrait die Geschichte der Letten im Ersten Weltkrieg dar, als zehntausende kurländische Bauern vor den anrückenden Truppen der deutschen Armee flohen. Diese Flüchtlingsbewegung war eine der größten Migrationswellen der lettischen Geschichte.
Das 210 x 107 cm große Gemälde stellt eine typische Szene der Kriegszeit dar. In vielen Familien fehlten die Väter, weil diese an der Front kämpfen. Frauen, alte Menschen und kleine Kinder mussten sich allein durchschlagen. In den „Flüchtlingen“ dominieren bleigraue Farben, gebrochene Linien und unregelmäßige Formen, die durch die vertikale monumentale Form des Gemäldes noch hervorgehoben werden. Die drei Generationen der lettischen Bauernfamilie auf dem Gemälde – die Mutter mit einem Säugling an der Brust, der Großvater und die Großmutter scheinen innerlich unerschütterlich zu sein. Sie symbolisieren die innere Kraft, den Glauben an Heimat, Freiheit und Zukunft.
Jēkabs Kazaks, geboren 1895 in Riga als Sohn eines Hausmeisters, ist einer der Begründer der lettischen Klassischen Moderne. Von 1913 an studierte er in der Kunstschule von Vilhelms Purvītis in Riga und war dann wegen des Krieges gezwungen, sein Studium in Penza in Russland fortzusetzen. Dort lernte er auch die Kunstschätze der großen Petrograder und Moskauer Museen kennen. Er war im regen Austausch mit gleichgesinnten lettischen Malern wie Romans Suta (1896–1944), Voldemārs Tone (1892–1958), Konrāds Ubāns (1893–1981), Kārlis Baltgailis (1893–1979). Seit 1916 lernte er den französischen Expressionismus kennen. Wie viele seiner Zeitgenossen war er von den Werken des französischen Malers André Derain (1880–1954) beeinflusst, ebenso von den Werken des lettischen Malers Jāzeps Grosvalds (1891–1920). 1917 kehrte er nach Riga zurück und wurde in den ersten Jahren der lettischen Unabhängigkeit ein aktiver Gestalter der Kunstszene; dabei verteidigte er die ästhetischen Prinzipien der Moderne. Kazaks war Vorsitzender der „Rigaer Künstlergruppe“. Er betonte die Rolle der Kunst, insbesondere der Malerei, für die geistige Entwicklung der Gesellschaft. Er schrieb über die Bestimmung des Malers: „Ein Maler, der keinen Inhalt transportiert, ist bloß ein Dekorator.“ Kazaks starb 1920 an Tuberkulose.
2014, als Riga die europäische Kulturhauptstadt war, fand im Lettischen Nationalmuseum der Künste die Ausstellung „1914“ statt. Die Gemälde von Jēkabs Kazaks waren ein wichtiger Teil dieser Ausstellung, die an den 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges erinnerten.
Das Thema der Kriegsflüchtlinge setzte er auch in seinen anderen Werken fort – in den Aquarellen und Tuschezeichnungen. In den großformatigen Werken stellt er in lakonischer Form die Kriegserlebnisse dar, in den kleineren Zeichnungen werden Alltagsszenen festgehalten. Als Expressionist in der Moderne bleibt er einer der bedeutendsten Maler der lettischen Kunst.
Ilze Plaude