Gunnar Birkerts (Gunārs Birkerts) ist der mit Abstand weltweit am meisten gefeierte Architekt lettischer Herkunft. Sein Name steht zugleich in den USA für architektonische Spitzenleistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein künstlerisches Schaffen umfasst rund 300 Gebäudeentwürfe sowohl in Amerika als auch in Europa. Zu den herausragenden Beispielen seines Wirkens zählen Federal Reserve Bank of Minneapolis (1973), Kemper Museum of Contemporary Art in Kansas City (1994) oder Corning Museum of Glass (1980). In Lettland erbaute Birkerts die für die zweite Unabhängigkeitsperiode symboltragende Nationalbibliothek (1989–2014) am linken Ufer des Flusses Daugava in Riga.
Birkerts wird von der Vorstellung von Architektur als einer Kunstform geleitet, die einerseits emotionale Wirkung entfalten, dennoch sich der kontextuellen Vorbestimmtheit durch Raum und Funktion beugen soll. Damit steht er fest in der Tradition des Modernismus und lässt sich durch solche Modernisten wie Alvar Aalto (1898–1976), Eero Saarinen (1910–1961) und Carlo Scarpa (1906–1978) inspirieren. Die genannten Namen spiegeln auch ebenfalls die nordische Verwurzelung der Handschrift von Birkerts wider. Das fasst Architekturkritiker Kay Kaiser (1951–2016) 1989 in „The Architecture of Gunnar Birkerts“ (1990) folgend zusammen: „kühne Formen, Raum vor Struktur, minimale Details, geschichtete Wände und Tageslicht in Innenräumen“.
Der große Durchbruch gelang Birkerts mit seiner 1973 fertiggestellten Federal Reserve Bank of Minneapolis (heute – Marquette Plaza). Der kühne Entwurf erinnert an eine Hängebrücke. Die Botschaftsgebäude der USA in Caracas und Venezuela erregten ebenfalls internationales Aufsehen. Die ihn auszeichnenden architektonischen Metaphern bringt das als erweichtes Glas gestaltete Corning Museum of Glass exemplarisch zum Ausdruck.
Die Quintessenz von architektonischen Metaphern erschuf Birkerts in einem seiner spätesten Werke – der Nationalbibliothek Lettlands in Riga. Das Gebäude ist ein Symbol für sich. Bereits die Auftragserteilung 1998 kam mit dem Anspruch, ein Zeichen für die Kultur Lettlands als der Kraftquelle des Widerstandes gegen die Besatzermächte und das lettische Kulturerbe als dem Urfundament der wieder erlangten Freiheit zu schaffen. Birkerts erzählt nun in Glas, Stein und Stahl ganze zwei alte Sagen, die beide bereits in anderen Kunstformen ihre Symbolkraft entfalten.
Der im tiefen See zu Boden versunkene Lichtpalast (lett.: „gaismas pils“) steht für den ununterbrochenen und kulturell verwurzelten Unabhängigkeits- und Freiheitswillen der Letten. Er ist durch die wiedererlangte Selbstbestimmung und in einer von Birkerts entworfenen Gestalt endlich aus der Dunkelheit der tiefsten Gewässer herausgetreten und beleuchtet der gegenwärtigen Generation ihren Weg in die Zukunft mit der Weisheit der Vorgänger.
Den Traum von einer ewigen Freiheit erzählte den Letten zunächst der Dichter Auseklis (1850–1879) in der Zeit des Ersten Nationalen Erwachens (1850er–1880er Jahre), dessen Gedicht „Die Sage von Kurland“ (lett.: „Kurzemes teika“) in der Musik von Jāzeps Vītols (1863–1948) zu dem an den von UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe ausgerufenen Lettischen Liederfesten (seit 1873) meistgesungenen Chormusikstück entwickelte. Der Nationaldichter Rainis (1865–1929) verdichtete die Symbolik des Lichtpalastes in seinem Stück „Feuer und Nacht“ (lett. „Uguns un nakts“, 1911) der Periode des Zweiten Nationalen Erwachens (ca. 1900–1918) weiter. Dieses Werk von Rainis fand seinen eigenen Platz hier im Kulturkanon.
Die zweite von Birkerts verwendete Metapher entstammt der Saga von einem gläsernen Berg (lett.: „stikla kalns“), an dessen Spitze eine verzauberte Prinzessin ewigem Schlaf verfallen ist. Ihr Erwachen brächte dem Volk Glück und Freude. Dieser zweiten alten lettischen Sage verlieh Rainis weitere sozialpolitische und philosophische Dimensionen in seinem Theaterstück „Das goldene Ross“ (1909). Der gläserne Berg soll auf einem Ross erklommen werden, um die Prinzessin erwachen zu lassen. Die Voraussetzungen für eine solche Heldentat bilden jedoch rein idealistische Motive, wenn sie ohne Gewalt und Eigennutz umgesetzt werden. Das auf diese Weise inspirierte Weltbild war maßgeblich für den Freiheitskampf im Dritten Nationalen Erwachen (1986–1991), das als „Singende Revolution“ in die Weltgeschichte einging und mit friedlichen Demonstrationen wie dem „Baltischen Weg“ (23.08.1989) – einer ca. 600 Km langen Menschenkette von Vilnius über Riga nach Tallinn – neue Symbolkraft entwickelte.
Nun haben die Bilder, Hoffnungen und Träume der alten Sagen und des immateriellen Kulturerbes eine dinghafte Gestalt durch Wirken von Birkerts am Ufer des Flusses Daugava erhalten. Mit den die Ostfassade waagerecht durchziehenden hohen Fenstern kreiert Birkerts ein Zusammenspiel seines symbolträchtigen Werks mit der hier im Kanon ebenfalls ausgezeichneten Skyline seiner Heimatstadt Riga. Die Symbolsprache setzt sich auch im Inneren des Gebäudes fort. Den Boden des Atriums gestaltete Birkerts in poliertem Granit, der traditionelle ornamentale Muster der lettischen Webereien nachbildet.
„The New York Times“ bezeichnete im Nachruf zu Ehren von Birkerts seine Nationalbibliothek in Riga als „wohl seinen größten Triumph“ (Grimes, William, 17.08.2017). Bei der Auszeichnung dieses Gebäudes mit dem ‚Library Building Award“ 2017 bezeichnete das American Institute of Architects es als „ein zeitgenössisches Meisterwerk der Moderne“. Der Architekt Will Bruder, Vorsitzender der Preisjury, sagte: „Er spielt mit Metaphern und Poesie sowie einer Deutung seiner Heimatstadt Riga. Das Werk ist heroisch und allegorisch, doch viel mehr übt es eine Überzeugungskraft über den vom Gebäude vereinnahmten Raum aus“.
Birkerts kam 1925 in Riga als Sohn des Schriftstellers, Folkloristen und Philosophen Pēteris Birkerts (1881–1956) und der Linguistin, Folkloristin und Pädagogin Mērija Šopa Birkerts (1895–1982) zur Welt. Während des Zweiten Weltkriegs flüchtete Birkerts zusammen mit Tausenden seiner Landsleute nach Deutschland, um einer möglichen Verschleppung nach Sibirien durch die sowjetischen Besatzer zu entgehen. Er absolvierte 1949 als Architekt die Technische Universität Stuttgart, wanderte jedoch gleich in die USA aus. Nach der Zusammenarbeit mit einer Reihe einflussreicher Architekten – bei Perkins & Will, mit Minoru Yamasaki (1912–1986), Eero Saarinen und Robert Venturi (1925–2018) – arbeitete er unter anderem am Dhahran Airport (heute – King Abdulaziz Air Base) in Saudi-Arabien. Im Jahr 1962 gründete Birkerts sein eigenes Büro. In den 1970er Jahren verbrachte Birkerts einige Zeit in Italien, wo er die Rolle des Resident Architect an der American Academy in Rom übernahm. 30 Jahre lang war Birkerts auch als Hochschullehrer an der University von Michigan tätig. Gunnar Birkerts verstarb 2017 in seinem Haus in Needham, Massachusetts, im Alter von 92 Jahren.
Roberts Putnis