Der polyphone oder mehrstimmige Sprechgesang ist eine einzigartige musikalische Erscheinung, deren Ursprünge in vorchristlicher Zeit vermutet werden. Diese Tradition wird seither in Regionen Kurlands und Lettgallens gepflegt. In den vergangenen Jahren wird dieser Gesang verstärkt gefördert und als Teil des kulturellen Erbes Lettlands hervorgehoben. In traditioneller Form werden in kleinerer oder größerer Gruppe lettische Volkslieder, die Dainas, gesanglich präsentiert. Es gibt dabei eine Vorsängerin (lettisch: teicēja oder saucēja, zu Deutsch: Sprecherin oder Ruferin), die einen Vierzeiler vorgibt, während die weiteren Sängerinnen diesen teils in abgewandelter Form wiederholen. Die Gesänge werden zumeist von Frauengruppen vorgetragen. Dabei können auch weitere Anwesende in den Gesang einbezogen werden. Pflege, Erhalt und Erforschung des mehrstimmigen Sprechgesangs sind ein Beitrag zum Erhalt der kulturellen Vielfalt in Lettland. Im internationalen Kontext ist er ein Erkennungsmerkmal der lettischen Identität.
Im Gegensatz zu anderen Liedern mit mehrstrophigen Texten zu zugehörigen Melodien sind die Gesänge des traditionellen Sprechgesangs variabel und nur thematisch gebunden. Das bedeutet, dass es keine Zuordnung von Melodien und Liedern gibt. Vielmehr werden je nach Anlass thematisch passende vierzeilige Dainas zusammengestellt und vorgetragen.
Bei den gesungenen Dainas stehen die Texte gegenüber den Melodien im Vordergrund. Es ist demnach eher ein kraftvolles, melodisches Sprechen als ein Gesang. Dabei gibt es eine klare Rollenverteilung. Die Verse werden von einem Sänger oder einer Sängerin vor- und anschließend von der Gruppe nachgesungen. In der Regel ist das der- oder diejenige mit dem größten Repertoire an Volksliedern. Der Text wird dann von einer Sängerin mit kräftigerer Stimme häufig in einer tieferen Tonlage wiederholt, wobei die anderen Sänger dies mit einem anhaltend gesungenen Vokal E gefolgt von einem A oder dem Vokal I gefolgt von einem O unterlegen.
Die Wiederholung des vorgesungenen Vierzeilers mit einem langen, ununterbrochenen Grundton nennt man auch Bordun (frz. bourdon). Alternativ wird der Vorgesang in einem gleichbleibenden Ton nachgesungen, was dem Klang des Borduns nahekommt. Eine weitere Variante ist der Wechselbordun, bei dem sich der Gesang um zwei Tonstufen ändert.
Der mehrstimmige Sprechgesang ist heute meist bei Familienfesten, bei Hochzeiten oder auch Beerdigungen zu hören. Er wurde lange Zeit in katholischen Enklaven innerhalb überwiegend lutherisch geprägter Regionen gepflegt. Daher hat sich die Tradition in eng begrenzten Gebieten Lettlands erhalten.
Heute führen verschiedene Folkloregruppen diese Gesangstradition fort. Im Südwesten Lettlands ist der Rota-Gesang verbreitet, bei dem der polyphone Gesang mit dem Wort rotā endet. Dieser Gesangstil wurde im 19. Jahrhundert vom Folkloreforscher Andrejs Jurjāns als der wohl schönste lettische Gesang bezeichnet. Die Folkloregruppe „Saucējas“ (dt. Die Ruferinnen) der Lettischen Kulturakademie pflegt diese Kunst und hat im Jahr 2012 ein Album mit dem Titel „Dziediet, męitas, vokorā“ herausgegeben.
Eine Besonderheit in der Tradition des Sprechgesangs ist das gegenseitige Necken im Gesang. Hierbei treten die Sängerinnen und Sänger in Kontakt mit dem Auditorium und singen Wechselgesang. Aus der Situation heraus wird kreativ improvisiert, wodurch sich wettkampfähnliche Stegreif-Dialoge entwickeln können. Dieser Moment wird bei Volksfesten, Konzerten und Hochzeiten immer mit Freude erwartet. Seit 2004 haben in Lettland mehrere internationale Bordun-Festivals mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Estland, dem Nordkaukasus und Weißrussland stattgefunden, wo es vergleichbare Gesangstraditionen gibt.
Jens Grabowski