Besondere Landschaften in Lettland sind die schönen und weißen Sandstrände der Ostsee (Baltijas jūra). Sie bilden die 500 km lange Küste, die sich von der estnischen Grenze im Norden bis zum südwestlichsten Punkt Lettlands in der Gemeinde Rucava, Ortschaft Pape, an der Grenze zu Litauen erstreckt. Die Küstenlandschaft ist abwechslungsreich und vielfältig, sie überrascht auf ihrer ganzen Länge immer wieder mit Dünen, Steilufern, Sandsteinfreilegungen, Kiefernwäldern, beeindruckenden Steinen, Höhlen, Leuchttürmen und früheren Fischerdörfern. Ab und zu findet man auch kleine, funkelnde Stückchen von Bernstein, nicht umsonst nennen die Letten die Ostsee auch das Bernsteinmeer. Fast auf der gesamten Länge ist die livländische und die kurländische Küste naturbelassen und menschenleer.
Das Biosphärenreservat Nordlivland (Ziemeļvidzeme) beginnt an der estnischen Grenze im Norden in Ainaži und erstreckt sich 60 km entlang der livländischen Küste. Das Reservat wurde 2004 in das EU-Netzwerk der geschützten Naturgebiete “Natura 2000” aufgenommen. Es beinhaltet viele kleinere Naturschutzgebiete, unter anderem die Strandwiesen „Randu pļavas“. Sie bilden das Gebiet einer Naturschonung von etwa 200 ha, das sich von der Ortschaft Ainaži bis Kuiviži erstreckt. Ein Drittel aller Pflanzenarten Lettlands, d.h. 600 Arten kommen in den Strandwiesen vor, darunter 37 in Lettland oder in Europa seltene oder bedrohte Pflanzenarten. Die Küstenwiesen sind ein Aufenthaltsort und Nistplatz für Zugvögel. 2006 wurde hier ein Naturpfad angelegt und ein Vogelbeobachtungsturm aufgestellt. Im gleichen Jahr wurden hier 114 Vogelarten beobachtet, was einen Rekord für Lettland darstellt.
Die Küstenlandschaft ist nicht nur wegen ihrer Naturschätze interessant, sie zeugt auch von der abwechslungsreichen lettischen Geschichte und bildet einen Kulturraum. So kann man im Museum der alten Marineschule Ainaži die lange, vom Schiffbau und der Seefahrt geprägte lettische Geschichte kennenlernen. Ab dem 19. Jahrhundert wurden an der livländischen Küste hölzerne Segelschiffe gebaut. In Ainaži entstand 1857 eine Werft und 1864 auf Anregung von Krišjānis Valdemārs (1825–1891) die erste lettische Marineschule, die Hunderte von Kapitänen und Seeleuten ausbildete. Der Hafen wurde im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört. Inzwischen sind Holzverarbeitung, Forstwirtschaft und Handel zu bedeutenden Branchen geworden. Interessant sind die Nordmole von Ainaži, die aus den für die livländische Küste typischen großen Steinen gebaut wurde, sowie der weiße Leuchtturm am Museum der Seefahrt. Schön ist die 1889 gebaute russisch-orthodoxe Kirche.
Auch Salacgrīva an der Mündung von Salaca ist eine kleine Hafenstadt mit Fischereiunternehmen und dem bekannten Positivus-Festival, das Tausende von Touristen anzieht. Seit 1949 arbeitet in Salacgrīva das Fischereiunternehmen „Brīvais Vilnis“.
Weiter südlich von Meleki erstreckt sich der steinige Strand von Vidzeme auf einer Länge von 12 Kilometern und hat eine Breite von 20–40 Kilometern, hier sind auch Sandsteinfreilegungen zu finden. Die größten davon sind die Veczemju-Felsen (bis zu 4 Meter hoch, im Abschnitt von Kāpnieki bis Siliņi auch 5 Meter). Die unter dem Wasser und auf dem Strand verstreuten riesigen eiszeitlichen Steine wirken wie eine „Bremse“. Bei starkem Wind und Sturm schwächen sie den Wellengang und die erodierende Wirkung der Wellen an den Ufern ab, was zur Entstehung des Steilufers führte. Der rötliche Sandstein hat sich hier vor 350–380 Millionen Jahren herausgebildet.
An der livländischen Küste wachsen vor allem die für den Norden typischen Nadelwälder mit Moorflächen. Es ist eine relativ einsame Gegend, die noch heute von den traditionellen Einzelgehöften geprägt ist.
An der östlichen Küste des Rigaschen Meeresbusens befinden sich südlich der steinigen Küste dichter besiedelte Ortschaften wie der Kurort mit dem schönen Namen Saulkrasti (Sonnenküste) mit der 18 Meter hohen Sanddüne Baltā kāpa im Ortsteil Pabaži, Wanderwegen durch die Dünen mit fast 200 Jahre alten Kiefern und herrlichen weißen Sandstränden, die durch viele kleinere Flüsse, unter anderen Pēterupe, durchkreuzt werden. Da steht eine kleine evangelisch-lutherische Dorfkirche aus dem 19. Jahrhundert, in der es im August ein Orgelmusikfestival stattfindet.
Weiter südlich an der Mündung von Gauja befindet sich das frühere Fischerdorf Carnikava an der Mündung der Gauja, bekannt durch das Fischerfest, auf dem als besondere lettische Spezialität Neunaugen angeboten werden. In den kleinen Kurorten wie Vecāķi genießen viele Familien aus Riga die Sommerfrische.
Nahe der Mündung der Daugava (Düna) befindet sich die lettische Hauptstadt Riga, 1201 von Bischof Albert gegründet, im Laufe der Jahrhunderte von einer Hansestadt zu einer dynamischen Kulturmetropole gewachsen. Berühmt durch die hanseatische Altstadt und den Jugendstil, trug Riga 2014 den Titel „Europäische Kulturhauptstadt“.
Unweit von Riga, bereits an der kurländischen Küste, befindet sich Jūrmala, der Riga-Strand. Beginnend an der Mündung der Lielupe, erstreckt sich Jūrmala über etwa 40 km nordwestlich von Riga entlang der Küstenlinie und besteht aus15 Teilorten, die im Laufe der Zeit aus Fischerdörfern zu mondänen Kurorten wurden. Im Ort Lielupe ist ein Freilichtmuseum eingerichtet. Sehenswert sind außerdem die Villen in Holzbauweise aus der Zeit der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert, die im Jugendstil errichtet wurden. Jūrmala ist auch bekannt für das Konzerthaus Dzintaru koncertzāle mit Freilichtbühne. Die Stadt war auch Sitz und Wirkungsstätte der lettischen Nationaldichter Rainis (1865–1929) und Aspazija (1865–1943), heute befindet sich in ihrem Sommerhaus in Majori ein Literaturmuseum. In Dubulti kann man auch das Aspazija-Haus, in dem die Dichterin die letzten 10 Jahre ihres Lebens verbracht hat, besuchen. In Jūrmala lebten auch berühmte Familien des deutschbaltischen Adels, unter anderem der Historiker Reinhard Wittram (1902–1973) und der Philosoph und Mathematiker Bruno von Freytag-Löringhoff (1912–1996). Heute ist Jūrmala ein beliebter Urlaubsort für Gäste aus Russland und Europa.
Gleich hinter Jūrmala verwandelt sich die Küstenlandschaft wieder in eine dünn besiedelte und einsame Gegend mit vielen interessanten Naturobjekten, es ist die kurländische Küste, die Region verdankt ihren Namen dem baltischem Volk der Kuren.
Kurland ist die westlichste Region Lettlands, ein wahres Naturparadies mit endlosen Dünen, hügeligen Wäldern und Storchenwiesen, Mooren, Flüssen und Seen.
Im Gebiet des Nationalparks Ķemeri westlich von Jūrmala befinden sich Feuchtgebiete, Lagunen-Seen als Überbleibsel des Littorina-Meers (einem nacheiszeitlichen Stadium der Ostsee), schwefelhaltige Mineralquellen und Moore. In Ķemeri-Nationalpark gibt es zahlreiche Naturpfade, unter anderem den Moorrundweg Ķemeri, wo es auch Vogelbeobachtungstürme gibt.
2005 und 2006 wurden mit Hilfe der Europäischen Union Projekte gestartet, um Flussbegradigungen und Moorentwässerungen rückgängig zu machen. Der Großteil der Fläche ist bewaldet, an der Küste befinden sich charakteristische Kiefernbestände auf sandigem Boden. Am Sloka-See befinden sich seltene Baumarten.
Die Fläche wird durch kleinere, langsam fließende Flüsschen durchkreuzt. An den Ufern des geschützten Sloka-Flusses leben seltene Tierarten wie die gefleckte Flussschnecke, Süßwassermuscheln, Fischreiher, Schwarzstörche, Wasserfledermäuse und Otter. Beim Fluss Vēršupīte finden sich Schwefelquellen und feuchte Laubwälder. Die größten Seen im Nationalpark sind der Sloka-See und der Kaņieris. Die Moore machen ein Viertel der Gesamtfläche des Nationalparks aus. Hier gibt es Vorkommen von Orchideenarten. Das große Ķemeri-Moor ist ein typischer Hoch- oder Moos-Moor. Andere Moore, die zum Torfabbau benutzt wurden, brauchen etwa 100 Jahre, bis sie sich regenerieren werden. Im Kurort Ķemeri gibt es auch Heilquellen, die für medizinische Anwendungen genutzt werden.
Im Nationalpark Ķemeri und entlang der kurländischen Küste finden sich sichtbare Zeugnisse von Stellungssystemen des Zweiten Weltkriegs, ebenso auch Erinnerungsorte an die Kämpfe des Krieges.
An der Küste befinden sich zahlreiche kleinere Ortschaften wie Lapmežciems, Ragaciems, Apšuciems, in denen noch ihre Geschichte als Fischerdörfer spürbar ist. In Ragaciems sind im Freilichtmuseum Sedums alte Fischereigebäude zu besichtigen. An vielen Orten arbeiten in den Dörfern kleine ländliche Räuchereien, wo man den in Lettland beliebten Räucherfisch probieren kann.
Ragaciems ist der Geburtsort des lettischen Dichters Imants Ziedonis (1933–2013), er ist auf dem Friedhof in Ragaciems beerdigt. Sein Erzählungsband „Kurzemīte“ (liebevoller Ausdruck für Kurland) von 1970 enthält romantische Beschreibungen der kurländischen Ortschaften.
Weiter nördlich befindet sich der Naturpark Engure mit seinem Orchideen-Pfad und dem großen Engure-See, einem Brutgebiet für teilweise seltene Vogelarten und 16 Fischarten. Dieser flache Lagunensee ist durch eine 1,5 bis 2,5 km breite Düne vom Meer getrennt. Die Ufer sind mit Schilf bewachsen, mehrere Holztürme und ein Labor sind für Vogelbeobachter errichtet.
Die Küstenbildungen des alten Ostseestadiums (des Littorina-Meers) sind weiter nördlich in Kaltene sehr gut sichtbar. Die Küsten bildeten sich vor etwa 4500–5000 Jahren heraus. Ein Material der Küstenablagerungen – Geröll und Kies – beinhalten einen für das Littorina-Meer typischen Komplex von Faunaresten. Der Steilhang der alten Küste in Kaltene bei dem Hof „Dobeļi“ ist einer der wenigen Abschnitte an der Küste des Rigaer Meerbusens, an der es während des Littorina-Meers eine Abrasionsküste gab. In den flachen Meeresbuchten und Lachen nähren und erholen sich die Zugvögel.
In Roja spürt man das Sowjeterbe, einen abgewrackten Hafen der ehemaligen Fischereifabrik. Überall stolpert man über Kunstobjekte im öffentlichen Raum. Die selbsternannte „Hauptstadt des Sommers“ zieht magisch jede Menge Künstler an. Weite Teile der Westküste waren in der Zeit der UdSSR Sperrgebiet. Die Natur ist dementsprechend intakt geblieben. Die einsamen Strände ziehen sich bis zur nördlichsten Spitze von Kurland, dem Kap Kolka, wo sich zwei Meere, die offene Ostsee und der Rigaer Meerbusen, treffen. Während des Vogelzuges fliegen Tausende von Vögeln darüber und hier ist der passende Ort, um eine Reise durch den Nationalpark Slītere zu beginnen.
Der Nationalpark Slītere ist ein nahezu unberührtes Naturschutzgebiet, das während der Sowjetzeit streng abgeschirmt war und so eine besondere Vielfalt an Pflanzen und Tieren bewahren konnte. Hier wechseln sich Meer, Laubwälder, Moore und Feuchtgebiete mit Borealwäldern und Schwarzerlen ab. Es gibt im Nationalpark mehrere Naturpfade und Aussichtstürme sowie den Leuchtturm am Hang der Blauen Berge, des bis zu 35 m hohen ehemaligen Steilufers. Es bildeten einst, zum Ausklang der Weichsel-Kaltzeit, die Küste des Baltischen Eisstausees. Einzigartig ist die Landschaftsgestalt mit ihrem Wechsel von kangari (finnougrisch: Hügel, Erhebung), meist parallel verlaufenden Dünen und vigas (finnougrisch= unwirtlich, unbewohnbar), das sind die sumpfigen oder feuchten Streifen dazwischen.
Mazirbe ist eines der größten Dörfer der Livenküste. Das „Volkshaus der Liven“ dort, nach dem Projekt des finnischen Architekten Erkki Huttunen 1931 gebaut, bietet eine Sammlung livischer Alltagsgegenstände und Audioaufnahmen der ausgestorbenen livischen Sprache.
Aufgrund der unterschiedlichen Lebensräume gibt es im Nationalpark auch eine vielfältige Flora und Fauna mit vielen Pflanzen-, Pilz- und Tierarten. Es wurden 128 Moose, 195 Flechten und mehr als 700 Pilze dokumentiert. Die Hänge der Blauen Berge sind mit Bärlauch, Eiben, Baltischem Efeu, Berg-Ehrenpreis und Schildfarn bewachsen. In Lettland kommt die Wald-Haargerste und die sumpfblütige Binse nur in diesem Nationalpark vor.
In Kiefernbeständen lebt der größte in Lettland heimische Käfer, der Mulmbock, der auch vom Aussterben bedrohte Grüne Edelscharrkäfer ist im ursprünglichen Laubmischwald mit vielen alten Bäumen anzutreffen.
125 Vogelarten brüten hier, darunter das Auerhuhn, das Birkhuhn und der Schwarzstorch sowie Fischadler, Schlangenadler, Steinadler und Uhus. Es sind auch 40 Säugetierarten im Nationalpark nachgewiesen, darunter der Wolf, der Luchs und der Elch. Kleinsäuger sind u.a. die Waldbirkenmaus, die Haselmaus und die Wasserspitzmaus. Der im Nationalpark häufige Biber formt durch den Bau seiner Dämme die Landschaft.
Weiter südlich befindet sich das livische Dorf Miķeļtornis (Michelsturm) mit dem höchsten Leuchtturm in Lettland. Einst verband eine Schmalspurbahn das Dorf mit der Hafenstadt Ventspils (Windau), die an der Mündung des Flusses Venta in die Ostsee liegt. 1290 wurde hier eine Burg des Livländischen Ordens gebaut. Als Teil des Herzogtums Kurland entwickelte sich Ventspils besonders in der Zeit Jakob Kettlers ab 1642 zu einem Zentrum des Schiffbaus. Von Ventspils aus startete eine Flotte, um Gambia und Tobago zu kolonialisieren. Teilweise ist in Ventspils noch die alte Holzarchitektur erhalten. Die Stadt ist aber stark industrialisiert, weil Ventspils ein wichtiger Hafen für den Rohöl-Export der UdSSR war.
Weiter südlich befindet sich Jūrkalne, eine der malerischsten Küsten Lettlands mit einem stillen, von der Zivilisation unberührten Strand und einer bis zu 20 Meter hohen Steilküste. Jūrkalne ist einer der wenigen Orte, an dem die lettischen blauen Kühe zu sehen sind, auch livische Kühe, Meeres- oder Mondkühe genannt.
Der deutschbaltische Schriftsteller Eduard von Keyserling (1855–1918) beschreibt in seinen Romanen und Erzählungen das Leben des deutschbaltischen Landadels in seiner Heimat Kurland. Im Roman „Die Wellen“ (1911) schildert er den Niedergang des Adels auf dem Hintergrund eines kleinen Fischerdorfs an der Ostsee. Die impressionistische Beschreibunge der See macht ihn zu einem wahren Meister der stillen Beobachtung.
Eine weitere bedeutende Hafenstadt in Kurzeme ist Liepāja (Libau), zum ersten Mal als Ort an der Mündung der Līva 1253 als unbefestigter Hafenort des Livländischen Ordens erwähnt. Sehenswert ist die evangelisch-lutherische St. Anna-Kirche (Einweihung 1587) mit ihrem monumentalen holzgeschnitzten Altaraufsatz der Barockzeit, sowie die evangelisch-lutherische Dreifaltigkeitskathedrale (Einweihung 1758), ein Wahrzeichen der Stadt in der Nähe des Rosenplatzes. Die Grünebergorgel der Dreifaltigkeitskirche gehört zu den größten in Europa.
Im äußeren Südwesten Lettlands befindet sich das Dorf Pape mit einem Naturpark, mehreren Fischerhäusern und dem Pape-See. Auch Pape ist ein Paradies für Vogelbeobachtung. Mehr als 200 Vogelarten migrieren jeden Herbst und Frühling entlang der Küste von Pape.
Das Zusammenspiel zwischen Natur, Geschichte und Gegenwart ist in der Küstenlandschaft von Lettland zu spüren. Seine Bedeutung für die Zukunft ist vor allem in der Erhaltung und Wiederherstellung der unberührten Natur zu sehen.
Ilze Plaude