Niklāvs Strunke (1894–1966), Gemälde "Ein Mann, der einen Raum betritt", 1927

Strunke war in seinen jungen Jahren ein Freund von Jāzeps Grosvalds (1891–1920) und diente genauso wie dieser als lettischer Schütze in der kaiserlichen russischen Armee. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte er in St. Petersburg und Riga die russische Kunstavantgarde kennengelernt. Er war von den Werken von Voldemārs Matvejs und Jāzeps Grosvalds beeinflusst. Nach dem Krieg schloss er sich im unabhängigen Lettland der von der französischen Malerei inspirierten Rigaer Künstlergruppe an. Strunke wandte sich früh dem italienischen Futurismus zu. Seine Vorbilder waren Ruggero Vasari, den er in Berlin traf, Enrico Prampolini, Ivo Pannaggi und der Vater des Futurismus Filippo Tommaso Marinetti, dem Strunke in Rom vorgestellt wurde. Italien wurde seine zweite Heimat, er lebte jahrelang in Rom und kehrte oft dahin zurück, auch als er 1944, so wie Tausende anderer Familien nach Schweden ins Exil ging. Sein Sohn Laris Strunke, der auch Maler war, ließ für seinen Vater auf dem Testaccio Friedhof in Rom ein Marmorkreuz mit der Inschrift „Die Kunst ist ewig“ (Māksla ir mūžīga) errichten.

Das 1927 entstandene Gemälde „Ein Mann, der einen Raum betritt“ stellt lakonisch und in geometrischen Formen eine Reise durch Raum und Zeit dar. Strunke war überzeugt, dass es die Bestimmung des Künstlers ist, surreale, abstrakte Räume und Situationen darzustellen. Dieses Gemälde zeigt genau diese Einstellung – es ist ein seltsamer Fluss der Zeit, der Zuschauer erlebt sowohl den Augenblick, als ein Mann in das Zimmer hereingeht, als auch den Augenblick davor. Geheimnisvoll erscheint auch der Mensch, von dem allein die Kontur wahrzunehmen ist. Die Gestalt erinnert an den Dichter der Moderne Aleksandrs Čaks, einen Zeitgenossen von Strunke, den er porträtiert hat und der durch die Straßen von Riga eilte.  Das zentrale Objekt des halbleeren Raums ist eine Lampe, die den Raum warm und gemütlich erscheinen lässt.

Das großformatige Gemälde hat Strunke gemalt, als er in Italien (in Rom und Florenz) war. Er war von der europäischen Moderne beeinflusst. Das Gemälde zeichnet sich sowohl durch die für den Kubismus typische Abstraktion und Geometrie der Formen, als auch durch das für den Futurismus charakteristische Interesse an Bewegung aus. Darüber hinaus ist auch der Einfluss der italienischen metaphysischen Malerei und deren Akzentuierung des Unterbewusstseins spürbar.

Strunke schafft hier mit Hilfe von Kontrasten eine abstrakte Tiefe. Um den Eindruck von unvollendeter und kontinuierlicher Handlung zu erzeugen, wird das Gemälde von einem unregelmäßigen weißen Rahmen umfasst, das Gemälde gewinnt dadurch eine zusätzliche Dimension.

Niklāvs Strunke ist auch als Grafiker, Bühnenbildner und Illustrator berühmt geworden. Sein Gemälde „Ein Mann, der einen Raum betritt“ ist im Lettischen Nationalmuseum der Künste ausgestellt.

Ilze Plaude