Der 1930 gedrehte Spielfilm „Lāčplēsis“ von Aleksandrs Rusteiķis ist der erste erhaltene abendfüllende Spiefilm großen Maßstabs in der Geschichte des unabhängigen Lettlands und bildet damit die Anfänge des lettischen Films. Die Story des Films basiert sich auf einer Volkssage über den Kampf des Volkshelden Lāčplēsis gegen die dunkeln Kräfte. Der Film hat nicht nur das Bewusstsein der Letten für ihren eigenen Staat gestärkt, sondern auch die Rezeption und die Bedeutung der Story über den sagenumwobenen Helden bereichert, weil die groteske Inszenierung mit dokumentarischen Aufnahmen vereint wurde.
Die Volkssage über Lāčplēsis hat der Dichter Andrejs Pumpurs 1888 zum Nationalepos „Lāčplēsis“ überarbeitet. Der berühmte Dichter Rainis hat 1905 diese in das Theaterstück „Feuer und Nacht“ aufgegriffen, Komponist Jānis Mediņš hat eine Oper (1913–1919) mit dem gleichen Titel komponiert. Der Stummfilm „Lāčplēsis“ stellt aber einen wichtigen Schritt in der Entwicklung diesen Stoffes dar.
„Lāčplēsis“ war zuerst als Kulturfilm angelegt, der am Ende aber zu einem hundert minütigen Spielfilm heranwuchs, der mit einer für die damalige Zeit ambitionierten Umsetzung und einer komplexen Erzählstruktur überrascht. Die Story hat zwei Erzählebenen – die reale und die mythische. Auf der Ebene des Mythos wird der sagenumwobene Kampf von Lāčplēsis (Schauspieler Voldemārs Dimze; 1902–1942) mit dem Schwarzen Ritter (Osvalds Mednis; 1898–1987) und die Liebesgeschichte zwischen Lāčplēsis und Laimdota (Lilita Bērziņa; 1903–1983) erzählt. Symbolisch ist diese Geschichte mit den Ereignissen auf der realen Ebene verflochten: diese umfasst die Revolution von 1905, den Ersten Weltkrieg und den lettischen Unabhängigkeitskrieg 1918–1920. Vor dem Hintergrund historischer Ereignisse entwickelt sich die Liebesgeschichte zwischen dem Bauernjungen Jānis und seiner geliebten Mirdza, die von den gleichen Schauspielern verkörpert werden wie Lāčplēsis und Laimdota.
Die visuell inhaltliche Darbietung der beiden Haupthelden Lāčplēsis und Laimdota ließ diese zu den Archetypen des Männlichen und des Weiblichen im lettischen Film werden. Denn der Darsteller von Lāčplēsis Voldemārs Dimze war professioneller Pilot und mit seiner photogenen Leinwandpräsenz entsprach er perfekt der Vorstellung eines Nationalhelden. Die eminente Schauspielerin Lilita Bērziņa in der Doppelrolle Mirdza/ Laimdota verkörperte nicht nur die weibliche Ausdauer, sondern wurde als Personifizierung des lettischen Staates wahrgenommen.
Die Filmsprache von „Lāčplēsis“ wird durch eine breite Palette der filmischen Stilmittel charakterisiert. Man findet im Film Ausschnitte aus Chroniken, aber auch Rekonstruktionen von historischen Ereignissen (z.B., die Proklamation der Unabhängigkeit Lettlands 1918), die sich abwechseln und mit Mise en Scène der Tradition des deutschen Expressionismus folgen. Zugegebenermaßen waren die Spezialeffekte im Film im Vergleich zu denen im internationalen Film ziemlich amateurhaft. Auch wenn im Film Aufnahmen aus der Ober- und Untersicht und ausdrucksvolle Nahaufnahmen zu finden sind, war das Tempo des Films ziemlich langsam und hinterließ einen statischen Eindruck.
Die große Bandbreite der im Film dargestellten historischen Details fordert vom Zuschauer vertiefte Kenntnisse der lettischen Geschichte und verlangt nach dem Bekanntsein mit der Filmsprache der damaligen Zeit. Für den heutigen Zuschauer kann der Zugang zu diesem Film sich als schwierig erweisen, manche Episoden sogar als äußerst komisch vorkommen. Aber der Versuch das ganze Arsenal der zu dem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden technischen Mitteln für die Umsetzung einer grandiosen Idee zu vereinen, bei der die höchsten Errungenschaften der ausländischen Kollegen als Beispiel dienten, war eine beachtliche Leistung, wenn auch das Ergebnis vergleichsweise mittelmäßig ausfiel.
„Lāčplēsis“ ist entstanden zum zehnjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Lettlands. Die Premiere war am 3. März 1930 in einem der ältesten Kinos von Riga – Kino „Palladium“. An der Premiere nahmen Teil all die wichtigsten Politiker Lettlands, draußen warteten die ungeduldigen Zuschauer auf weitere Vorstellungen. Der großangelegte Film wurde zum Teil vom lettischen Staat mitfinanziert, zum Teil kam die Finanzierung vom Verteidigungsministerium und von der paramilitärischen Organisation „Aizsargi“.
Wie der weltweit führende Stummfilmforscher Yuri Tsivian (1950) es betont hat, kann man „Lāčplēsis“ aufgrund von dessen mehrschichtigen erzählerischen Struktur und Parallelhandlungen mit dem Film „Intolerance“ von David Wark Griffith (1875–1948) vergleichen und in der kontrastreichen Visualität des Films Einflüsse des deutschen Expressionismus der 20er Jahre erkennen.
Von Elīna Reitere adaptierte deutsche Fassung nach einem Text von Olga Doļina
Der Film kann HIER gesichtet werden (mit englischen Untertiteln).