Der Film „Four White Shirts“ („Četri balti krekli“, 1967) von Rolands Kalniņš, der während der Sowjetzeit unter dem von der Zensur aufgezwungenen Titel „Breathe deeper“ („Elpojiet dziļi…“) bekannt war, nimmt eine ganz besondere Stellung nicht nur im lettischen Filmkanon, sondern in der ganzen Filmgeschichte Lettlands ein. Neben den unbestrittenen künstlerischen Qualitäten besitzt der Film ein schweres Schicksal, das ein Paradebeispiel über das Verhältnis zwischen einem Künstler und dem ideologischen System der Sowjetunion darstellt.
Die Bedeutung des Films für die Kulturgeschichte Lettlands fußt auf zwei Aspekten. Erstens, der Film ist ein Meisterwerk, das belegt, dass die lettischen Filmemacher trotz des Eisernen Vorhangs die Tendenzen des Weltkinos seiner Zeit wahrgenommen haben. Seit dem Ende der 50er Jahre verspürten die jungen Filmemacher in verschiedenen europäischen Ländern den Wunsch die Filmsprache grundsätzlich zu verändern und weiterzuentwickeln. So sind verschiedene „Neue Wellen“ entstanden: die Nouvelle Vague in Frankreich, der Neue Deutsche Film in Deutschland usw. Dieser Film von Rolands Kalniņš belegt, dass eine solche „Neue Welle“ auch im lettischen Film möglich gewesen wäre. Dass es nicht stattfand, daran war der zweite Aspekt entscheidend. Denn Lettland gehörte zu der Sowjetunion. In diesem totalitären Staat fiel es jedem Anzeichen des Freisinns sehr schwer durch das ideologische Kontrollsystem zu gelangen, jede kreative Äußerung war der Zensur, auch der Selbstzensur, unterworfen. Ironischerweise demonstriert die Story des Films genau diese ungleichen Verhältnisse und die Hindernisse, die einem jungen Menschen auf seinem Weg begegnen. Durch das Aufzeigen des Systems haben die Autoren des Films übermütig riskiert und haben gewissermaßen damit schon das mögliche Schicksal des Films vorhergesagt und haben damit leider auch Recht gehabt.
Die Hauptfigur des Films ist der Telefon-Monteur Cēzars Kalniņš, der in seiner Freizeit Songs komponiert und diese mit seiner Band „Die Optimisten“ aufführt. Im sowjetischen System aber wurde jede kreative Tätigkeit, die für die Öffentlichkeit gedacht war (wie Konzerte, z.B.), als eine Tätigkeit der ideologischen Front angesehen und wurde deshalb immer strenger Überprüfung unterworfen, um zu schauen, ob die Songtexte eventuell der sowjetischen Ideologie nicht entsprechende Untertöte haben. Um das zu überprüfen, gab es ein besonderes Tarifikationssystem und es wurden verschiedene spezielle Ausschüsse einberufen, die, wie im Film gezeigt, die Kontrolle der kreativen Persönlichkeiten ad absurdum führten. Neben diesem zeigt der Film auch den Konflikt der Generationen, der in allen Zeiten aktuell geblieben ist. In diesem Gegensatzpaar fliegen die Funken zwischen der „alten“ Anita Sondore (Schauspielerin Dina Kuple; 1930–2010), die als Erste auf die gefährlichen Inhalte von Cēzars Songs hinweist. Zu ihr gesellen sich die Mitglieder des Ausschusses für Erziehungsarbeit der Jugend, der aus unterschiedlichen, oft karikierten Charakteren besteht. Auf der Seite der jungen sind Cēzars selber, der nicht mal einen ordentlichen Abschluss einer Musikschule vorweisen kann, und seine Freunde, manche junge Maximalisten, manche – Konformisten.
Ähnlich, wie es den Songs von Cēzars im Film ergeht, gestaltete sich das Schicksal des Films. Die Anspielungen auf das staatliche System waren im Film so offensichtlich und übermütig präzise, dass jede Kontrollinstanz zur Genehmigung des Films auf diese Entlarvungen absolut vorhersehbar reagiert hat und nach verschiedenen Änderungen, Korrekturen und Ergänzungen verlangt hat. Am Ende wurde dem Film der neutrale Titel „Breathe Deeper“ aufgezwungen und der wurde zum stillen Vergessen verurteilt – der Film wurde nie offiziell verboten, sondern schlicht verschwiegen, in dem der weder rezensiert noch eine breite Auswertung gefunden hat.
Auch die Musik des Films „Four White Shirts“ – die Lieder komponiert von Imants Kalniņš (1941) mit den Texten von Māris Čaklais (1940–2003) – hat einen besonderen Stellenwert in der lettischen Musikgeschichte. Die Songs wurden schon im September 1967 zum ersten Mal öffentlich aufgeführt mit der Ankündigung, dass die Premiere des neuen Films am Anfang des neuen Jahres stattfinden wird. Als der Film dann aber totgeschwiegen wurde, haben die Songs ihr eigenes Leben angefangen. Imants Kalniņš mit seiner Band spielte diese auf seinen Konzerten und die illegalen Aufnahmen verbreiteten sich rasch.
Zu den Höhepunkten des Films gehören auch die schauspielerischen Leistungen. Die Rolle von Cēzars ist eines der Glanzleistungen des großen lettischen Film- und Theaterschauspielers Uldis Pūcītis (1937–2000), der hiermit seine Fähigkeit belegt lebendig und begeisterungsvoll einen ehrlichen und prinzipiellen, aber sehr komplizierten Charakter darzustellen.
Erst zwanzig Jahre nach seiner Herstellung fand der Films ein Publikum: im Zuge der Glasnost und Perestroika wurden Ende der 80er Jahre in der Sowjetunion auch die bis dahin verbotenen und verschwiegenen Filme zur Aufführung wieder freigegeben.
Die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit erreichte ihren Höhepunkt 2018 als die restaurierte Fassung von „Four White Shirts“ in der Anwesenheit des zu dem Zeitpunkt schon 96 Jahre alten Rolands Kalniņš und seines Kameramanns Miks Zvirbulis (1937) beim Internationalen Filmfestival in Cannes in der Sparte „Cannes Classics“ gezeigt wurde. Der Film, der in sich so viele Merkmale der Nouvelle Vague in sich vereint, gelangte endlich zu dem Ort, wo die filmische neue Welle eigentlich ihren Anfang genommen hatte.
Von Elīna Reitere adaptierte deutsche Fassung nach einem Text von Kristīne Matīsa
Der Film kann HIER gesichtet werden (mit englischen Untertiteln).