Die Daugava (Düna) ist ein 1020 Kilometer langer Strom, der vom Südosten des Landes bis zur Mündung in den Rigaischen Meerbusen fließt. Die malerischen Täler, die hohen Dolomitenufer, die Ruinen alter Burgen an den Ufern gehören zu den eindrucksvollsten Landschaften in Lettland.
Der sagenumwobene Fluss spielt in der Geschichte Lettlands eine herausragende Rolle, er wird auch „der Schicksalsfluss“ genannt. Die wichtigsten Ereignisse des Volksepos „Lāčplēsis“ (Bärenreißer) geschehen an den Ufern der Daugava. Der Nationaldichter Rainis (1865–1929) widmet seine Ballade „Daugava“ (1919) dem Kampf gegen fremde Mächte und der Entstehung des lettischen Staates 1918.
Rainis
Sonne, Donner, Daugava
Sonne gab den Letten Heimat,
wo sich Meer und Land berühren.
Wo sich beider Ränder treffen,
erhielt Lettland Torgewalt.
Lettland hielt zum Tor den Schlüssel,
wachte über Dünas Fluten,
Fremdes Volk kam, brach das Tor auf
und der Schlüssel fiel ins Meer.
Weiße Blitze sandte Donner,
riss den Schlüssel aus der Tiefe.
Lettland schloss den Tod vom Leben,
weißes Meer von grünen Feldern.
Sonne gab den Letten Heimat,
wo die weißen Wogen branden.
Sand bedeckte grüne Felder –
sollten Lettlands Kinder darben?
Sonne hieß den Gott der Menschen
Dünas Graben zu vertiefen.
Tiere halfen, und aus Wolken
ließ Gott Lebenswasser fließen.
Lebensfluten, Todesfluten
bildeten die Daugava.
Tauch ich meine Hand ins Wasser,
spür ich beider Macht in mir.
Deutsche Übertragung von Nicole Nau, in lettlandlesen.com
Die Daugava ist in Lettland das Symbol für den Kampf um die Unabhängigkeit, so auch am Ende der „Atmoda“-Zeit (= Erwachen), als dieses Lied des Spielmanns aus der Ballade „Daugava“ von Mārtiņš Brauns 1988 für gemischten Chor vertont wurde.
Der Fluss beginnt in Russland auf den Waldaihöhen; im Südosten Lettlands oberhalb von Daugavpils, der zweitgrößten Stadt Lettlands, ist der Fluss bereits ein breiter Strom.
Zwischen Krāslava und Daugavpils windet sich die 250 Meter breite Daugava in sieben Schleifen durch ein bis zu 30 Meter hohes, dicht bewaldetes Flusstal. In den urwaldähnlichen Wäldern gedeihen hier mehr als 700 Farnarten, fließen kleinere Bäche in Richtung des großen Flusses. Zwischen Krāslava und Naujene führt ein Lehrpfad durch wildromantische Landschaften an die Daugava. In unmittelbarer Nähe liegt die unter Denkmalschutz stehende Siedlung Slutiški, ein einzigartiges Dorf der altgläubig-orthodoxen Gemeinde vom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts, heute ein Freilichtmuseum, das zu den geschützten Landschaftsgebieten von Augšdaugava (die obere Daugava) gehört. Im Ort Kaplava befindet sich nahe dem Steilufer eine russisch-orthodoxe Kirche und westlich des Ortes Klippen mit Aussichtspunkten.
Mit dem Kampf gegen den Bau eines Wasserkraftwerks zwischen Krāslava und Daugavpils, durch den das schöne Tal unter Wasser verschwunden wäre, begann 1987 der Kampf für die Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion. Der Bau des Wasserkraftwerks konnte verhindert werden.
In Krāslava kreuzen sich die kulturellen Einflüsse der Kreuzritter, des polnisch-litauischen Doppelreichs, Russlands, Weißrusslands und der lettischen Provinz Latgale. Ein Barockschloss gehört ebenso zum Stadtbild wie die katholische und die russisch-orthodoxe Kirche.
Unmittelbar nördlich von Krāslava beginnt das „Land der blauen Seen“, die Seenplatte Latgales. Einen schönen Ausblick auf die Seen hat man vom 211 Meter hohen Sauleskalns nördlich von Krāslava.
Zwischen Krāslava und Daugavpils windet sich die Daugava in großen Schleifen in einem dicht bewaldeten Tal, das zum Naturpark erklärt wurde.
Der Name Dünaburg wurde erstmals 1275 erwähnt, als der Deutsche Orden östlich der heutigen Stadt am Steilufer der Daugava eine Festung errichtete.
Im Jahre 1772, im Rahmen der ersten polnischen Teilung, kam Daugavpils zu Russland. 1811 entstand nördlich des heutigen Stadtzentrums eine massive Festung zur Sicherung der russischen Westgrenze, die bis heute im Wesentlichen erhalten ist. Im Gebäude des Artillerie-Arsenals der Festung von Daugavpils ist das Kunstzentrum Mark Rothko (1903–1970) eingerichtet. Der Maler des Abstrakten Expressionismus und Wegbereiter der Farbfeldmalerei, der in den USA weltberühmt wurde, wurde in Daugavpils (Dünaburg) geboren und verbrachte hier seine ersten zehn Lebensjahre.
Zum Stadtbild gehören die russisch-orthodoxe Boris-und-Gleb-Kathedrale mit interessanten Ikonen aus dem 19. Jahrhundert, sowie die 1852 gebaute katholische Marienkirche. Im Unterschied zu den anderen Regionen Lettlands, die vorwiegend evangelisch-lutherisch sind, ist Latgale katholisch geprägt. Nördlich von diesen zwei Kirchen steht in der Puškina iela die altrussisch-orthodoxe Kirche, in der mehr als 300 wertvolle Ikonen zu sehen sind.
Die Gegenden westlich und südwestlich von Daugavpils sind recht schön, unweit von Daugavpils in Tadenava (Taddenhof) verbrachte Rainis seine ersten Lebensjahre, im Haus ist ein Rainis-Museum eingerichtet.
Jēkabpils am Ufer der Daugava ist eine Stadt der Kirchen: Unmittelbar neben dem orthodoxen Kloster stehen die Nikolaikirche und die Heiliggeistkirche. Nahe der Dreieinigkeitskirche befindet sich ein ethnographisches Freilichtmuseum, in dem die Traditionen der sich südlich von Jēkabpils erstreckenden Region Sēlija am Beispiel eines Bauernhofs aus dem 19. Jahrhundert präsentiert werden. Am Rande des Stadtparks stehen die evangelische Michaeliskirche und die katholische Kirche aus dem Jahr 1885.
Weiter in westlicher Richtung in Pļaviņas mündet der Fluss Aiviekste, dessen naturbelassene Ufer recht malerisch sind, in die Daugava. In Pļaviņas befindet sich eines der Wasserkraftwerke der Daugava.
Das schöne Daugavatal rund um Aizkraukle beginnt mit der geschichtsträchtigen Landschaft von Koknese. Am Ufer der Daugava ragen die Überreste einer einst mächtigen Ordensburg in den Himmel. 1208 hatte Bischof Albert den 40 Meter hohen, fünftürmigen Bau errichten lassen. 1226 erhielt die Stadt Koknese, die sich um die Burg entwickelte, das hanseatische Stadtrecht. Burg und Siedlung wurden im Nordischen Krieg 1701 zerstört, so dass nur die Burgruinen geblieben sind. Im Jahre 1961 wurde die Landschaft um Koknese durch den Bau eines Wasserkraftwerks von den Sowjets geflutet. Während sich die Reste der Burgruine noch immer majestätisch über den Fluten erheben, verschwand der Felsen Staburags unter Wasser. Dieser Felsen spielte im lettischen Nationalepos eine bedeutende Rolle. Lāčplēsis, der groß und stark war, nahm es mit den bösen Kräften, dem Sohn einer Hexe, am anderen Ufer der Daugava auf. Auf dem Felsen von Staburags kam es zum Kampf und nach vielen Runden versanken die beiden Gegner in den Fluten. Seitdem heißt es, dass Lettland so lange von fremden Mächten beherrscht werden wird, bis Lāčplēsis aus den Fluten wieder aufsteht.
In Lielvārde befindet sich ein Museum über das Nationalepos Lāčplēsis und dessen Autoren Andrejs Pumpurs (1841–1902). Hohe Holzfiguren mit Bezügen zur lettischen Mythologie stehen in der Nähe des Flussufers in einer Lichtung.
Auch in Ķegums, in westlicher Richtung, befindet sich ein gewaltiges Wasserkraftwerk. Im dazugehörigen Museum gibt es historische Fotos, Filme und Teile des Wasserkraftwerks selbst: den Kontrollraum, die Turbinen und die für Fische angelegte Umleitung.
Im Ort Ikšķile ließ Bischof Meinhard 1186 an der Daugava die älteste christliche Kirche des Baltikums erbauen. Es begann die gewaltsame Missionierung durch den Schwertbrüderorden. Vom ältesten steinernen Bau im Baltikum, der sich wegen des Stausees heute auf einer Insel befindet, sind nur noch Ruinen erhalten.
Nicht weit entfernt bietet sich bei Saulkalne ein schöner Blick auf die Daugava. Auf der nahe gelegenen Insel Nāvessala (Insel des Todes) standen sich im Ersten Weltkrieg lettische Schützen und die deutsche Armee gegenüber. Auf der Insel erinnert ein 1924 von Eižens Laube erschaffenes Denkmal an die Ereignisse des Ersten Weltkriegs.
Am linken Flussufer, kurz vor Riga, befand sich das Konzentrationslager Salaspils (deutsch Kurtenhof), in dem schätzungsweise mehr als 100 000 Menschen den Tod fanden, unter ihnen viele sowjetische Kriegsgefangene, Zivilisten, auch Kinder. Auf dem Gelände stehen monumentale Skulpturen, die an die Opfer erinnern.
Knapp außerhalb der Stadt liegt die Insel Doles sala, in der sich in einem sehenswerten neoromanischen Gutshof auch das Museum des Flusses Daugava befindet. Als Schicksalsfluss verband die Daugava stets die Letten, trennte sie aber auch in den jahrhundertelangen Kämpfen gegen fremde Mächte.
Unweit von Riga befindet sich Rumbula, einer der größten Orte der Massenvernichtung von Juden in Europa. Zur Erinnerung an die mehr als 25 000 Toten wurde eine Gedenkstätte mit vielen kleinen Stelen eingerichtet.
Die Daugava ist in Riga ein 500–700 Meter breiter Fluss, mit einigen schönen Brücken und einem Panoramablick auf die Rigaer Altstadt. Mehrere größere Inseln wie Zaķusala mit dem Fernsehturm und Ķīpsala liegen in Riga. Bei Daugavgrīva an der Mündung in den Rigaischen Meerbusen befindet sich die 1305 von den Rittern des Deutschen Ordens angelegte Festung, da ist die Daugava 1,5 Kilometer breit.
Ilze Plaude