Indem sie ihre alten Bräuche und Rituale in eine moderne nationale Identität verwandelten, haben sich die Letten den Beinamen „Europas letzte Heiden“ verdient. Einer der Meister in diesem Zusammenhang war der Komponist Emilis Melngailis, in dessen Chor-Meisterwerk „Mittsommernachtsabend“ (Jāņuvakars) einfache Volksweisen zu großartiger Musik werden.
Emilis Melngailis wurde als eines von sechs Kindern im Dorf Igate (Region Vidzeme) geboren; seine Eltern waren Jēkabs, Lehrer, und Līze, bekannte lokale Folksängerin. Emilis debütierte bereits im Alter von 12 Jahren als Komponist und Dirigent für einen örtlichen Kirchenchor, später studierte er Musik in Dresden und St. Petersburg.
Melngailis verbrachte fast 14 Jahre in Taschkent, Zentralasien, doch während der Besuche in seiner Heimat besuchte er auch die lettischen Provinzen, um ländliche Volksmelodien aufzuschreiben. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er dauerhaft nach Lettland zurück. Insgesamt sammelte er zu Lebzeiten etwa 5.000 solcher Melodien, darunter livische, russische, kasachische, jüdische und andere. Seine Kompositionen sind keine erstarrten Lobpreisungen archaischer Werte, sondern eine lebhafte Fortsetzung von Traditionen. Das liegt daran, dass Melngailis in seinen A-cappella-Arrangements (etwa 275 Opera) und Partituren für Vokal- und Instrumentalensembles (zusammen etwa 200) folkloristische Motive mit Originalthemen oft so überzeugend verbindet, dass nur Experten diese Elemente unterscheiden können.
Dies ist auch bei „Mittsommernachtsabend“ der Fall, dem bei Weitem beliebtesten der rund 50 originalen Chorlieder, die Melngailis schrieb. Der „Līgo“ oder „Jāņi“ genannte Mittsommerabend ist das größte Fest im lettischen Kalender. Die Städter besuchen die Landhäuser ihrer Freunde und Verwandten, um Bier zu trinken und über das Lagerfeuer zu springen, aber es ist auch ein zutiefst spirituelles Ereignis, das die Naturverbundenheit des lettischen Volkes verkörpert.
Viele der an Jāņi gesungenen Lieder enthalten den Refrain „līgo, līgo“, eine alte Anrufung der Fruchtbarkeit. Dies steht auch im Mittelpunkt von „Mittsommernachtsabend“. Arrangiert für Männer- und Frauenchöre sowie für Sopran- und Tenorsolisten, baut sich die gefühlvoll mäandernde Musik über fünf Minuten zu einem Crescendo auf, das mit dem zweigestrichenen „h“ endet, dem wohl höchsten Ton, der überhaupt bei Lettlands riesigen Sängerfesten gesungen wird. Es gleicht dem Moment, in dem die Sonne auf ihrem höchsten Punkt steht.
Das Lied wurde erstmals 1931 vom Gesamtchor des 7. Sängerfestes unter dem legendären Dirigenten Teodors Reiters aufgeführt. Bei den Sängerfesten 1933 und 1938 dirigierte Melngailis selbst das Stück. Während andere Werke, die in der Zeit der ersten Republik Lettlands komponiert worden waren, als ideologisch verwerflich galten, wurde „Mittsommernachtsabend“ bei einer Reihe von Sängerfesten der Sowjetzeit gesungen. In einer Zeit, als die Feierlichkeiten Lieder beinhalten mussten, die die kommunistische Ideologie lobten, empfanden die Letten Melngailis‘ Komposition als tiefgründiges Spiegelbild ihrer wahren Identität.
In der Geschichte der Sänger- und Tanzfeste ist „Mittsommernachtsabend“ das am zweithäufigsten gesungene Lied, übertroffen nur von Jāzeps Vītols' „Schloss des Lichts“ (Gaismas pils), und auch von kleineren Chören wird es weiterhin gesungen und aufgenommen. Auch seit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands im Jahr 1991 ist „Mittsommernachtsabend“ ein fester Bestandteil der großen Chorveranstaltungen mit bis zu 20.000 Sängerinnen und Sängern. Es von diesem riesigen Ensemble aufgeführt zu hören, ist eine fast mystische, transzendentale Erfahrung.
David Stasun