Der dokumentarische Kurzfilm „Ten Minutes Older“ („Vecāks par desmit minūtēm“, 1978) vom Regisseur Herz Frank und seinem Kameramann Juris Podnieks (1950–1992) gilt unter Kinoexperten als das unbestrittene Chef-d’Œuvre und deshalb ist er aus keiner Pflichtliste zur Geschichte des lettischen Films wegzudenken. Der nur zehn Minuten lange Film ist unikal sowohl mit seiner Form als auch mit seinem Inhalt und gilt als der weltweit berühmteste lettische Film.
Zuerst die Form: Herz Frank hatte schon eine Zeit lang daran gedacht, dass das höchste Können im Dokumentarfilm darin bestehe, das echte Leben festzuhalten und dieses dann zu einem Kunstereignis zu machen, aber nur, wenn gar keine üblichen filmischen Hilfsmitteln eingesetzt werden, also, ohne Schnitt, Materialauswahl oder Off-Kommentar. Deshalb sind die zehn Minuten des Films in einer Einstellung gedreht worden. Die Dauer des Films wurde von den technischen Möglichkeiten damaliger Zeit diktiert: eine 35 mm Filmrolle dauerte zehn Minuten, dann musste die Kamera neu beladen werden.
Der gefilmte Moment, also der Inhalt des Films, war auch das Ergebnis einer akribischen Vorbereitung, um alle störenden Zufälle auszuschließen. Die Idee des Films sah es hervor, dass das Gesicht des Kindes, das sich eine Theateraufführung anschaut, als Spiegel funktioniert, auf dem der Zuschauer alle Ereignisse in der realen Zeit widerspiegelt sieht. Im nächsten Schritt musste die Entscheidung getroffen werden, was dieses Kind schauen sollte, was die ganze Bandbreite des emotionalen Spektrums abbilden würde. Deshalb saß Herz Frank mit einem Chronometer in vielen Theaterinszenierungen für Kinder und hat nach genau diesen zehn Minuten gesucht, wo die Handlung auf der Bühne die allerhöchste Amplitude von Ereignissen aufweisen würde und dadurch auch dem Film seine dramaturgische Struktur verleihen würde. Oder, wie Frank selber dazu zu sagen pflegte: das Einatmen, den Höhepunkt und das Ausatmen des Films.
Am Ende wurde der Entschluss gefasst, den Film während einer Aufführung von der Bühnenfassung von „Doktor Aibolit und seine Tiere“ von Wladimir Sutejew im Staatlichen Puppentheater zu drehen. Ungewöhnlich für den Dokumentarfilm war die Tatsache, dass der Hauptheld des Films schon im Voraus ausgesucht worden war. Es wurden einige Kinder getestet, wie emotional sie auf die Ereignisse reagieren. Die Auswahl fiel auf den drei Jahre und zwei Monate alten Uģis Jansons.
Noch schweriger gestaltete sich die Frage nach der Ausleuchtung des Films. Da die damalige Filmkamera sehr groß und laut war und der Film sehr lichtunempfindlich, musste eine Lösung gefunden werden, damit das Kind die Lichtquellen und andere mögliche Störfaktoren nicht bemerkt und dadurch nicht abgelenkt wird. Juris Podnieks hat schon mehrere Jahre vor dem Drehen nach dieser technischen Lösung gesucht und kam 1978 mit dem Vorschlag, wie man anhand von versteckter Kamera und einer für das Kind unbemerkbaren Beleuchtung von unten diese Idee realisieren könnte.
Herz Frank ist der international berühmteste Filmemacher Lettlands, der in drei Ländern – in Lettland, Russland und Israel – Preise für seine Lebenswerk im bekommen hat. Er hat beim Film als Drehbuchautor und Ideengeber angefangen, war davor aber Pressefotograf gewesen, deshalb wird in seinen Filmen der Visualität und der erzählerischen Kraft des Bildes eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Frank war auch der erste Dokumentarfilmer Lettlands, der in seiner Tätigkeit die Grenzen zwischen den beiden Funktionen – der des Drehbuchautoren und der des Regisseurs – verwischt hat, bis er angefangen hat im Vorspann seiner Filme sich einfach als Autor des Films anzusagen und so auch das Konzept des Autorenfilms wortwörtlich umgesetzt hat, das es vorhersah, dass ein Film eine unikale Vision eines Künstlers ist und nicht das Produkt einer langen Kette von industriellen Produktionsentscheidungen.
Die Karriere von Herz Frank als Drehbuchautoren blühte am Anfang der 60er Jahre auf als nach seiner Idee der Kurzfilm „White Bells“ („Baltie zvani“, 1961) gedreht wurde, der auch im Filmkanon zu finden ist und als Grundstein der berühmten Rigaer Schule des poetischen Realismus gilt. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre debütierte Herz Frank auch als Regisseur und seit dem Anfang der 70er Jahren hat er fast jedes Jahr einen neuen Film gedreht. Der größte Teil derer haben einen bedeutenden Platz in der lettischen Filmgeschichte eingenommen. Insgesamt hat Herz Frank bei mehr als 80 Filmen Regie geführt. Die letzten Jahre seines Lebens hat Herz Frank in Israel verbracht. In seinem letzten Film „Beyond the Fear“ (2015) dokumentiert er auch sein eigenes Lebensende.
Den Höhepunkt seiner internationalen Karriere erlebte der Film „Ten Minutes older“ 2002 beim Filmfestival in Cannes, als zwei Omnibusfilme mit einem verknüpfenden Titel Premiere feierten: „Ten Minutes Older: The Cello“ und „Ten Minutes Older: The Trumpet“. Beide Filmzyklen bezogen sich auf die genial einfache Idee von Herz Frank – der Regisseur zeigt auf der Leinwand nur zehn Minuten aus dem Leben und bewertet, wie viel oder wie wenig diese was verändern können. Die fünfzehn Regisseure, die an diesem Projekt teilgenommen haben, haben jeder einen besonderen Platz in der Filmgeschichte eingenommen: Jean Luc Godard, Bernardo Bertolucci, Aki Kaurismäki, István Szabó, Wim Wenders, Jim Jarmousch u.a. Am Ende der beiden Filme ist die Widmung an Herz Frank und Juris Podnieks zu lesen.
Von Elīna Reitere adaptierte deutsche Fassung nach einem Text von Kristīne Matīsa
Der Film kann HIER gesichtet werden (mit englischen Untertiteln).