Der Roman "Erdbrände", 1977, von Regīna Ezera (1930–2002)

In den „Erdbränden“ wandert die Autorin, die nur entfernt etwas mit Regīna Ezera zu tun hat, nach einem Schlaganfall in einem Garten der Skulpturen umher, sie sieht da Bekannte aus dem Kleinstädtchen Mūrgale, den sie als ihren Wohnort gewählt hat.

Die Autorin nimmt wahr, dass diese Personen genauso wie sie tot sind. Sie weiß, dass sie über diese Menschen alles weiß, auch, dass sie unabsichtlich getötet worden sind. Es folgen fünf einzelne Geschichten, die das Thema der unbeabsichtigten, ungewollten Tötung verschiedenartig darstellen, die sechste Passage stellt den Tod der Autorin selbst dar.

In den ersten fünf Fragmenten werden Familiengeschichten dargestellt, mit einem schonungslos realistischen Blick auf die sowjetische Gegenwart, ihre tradierten Geschlechterrollen (trotz der Berufstätigkeit der Frauen), die Enge und die Unmöglichkeit, der Situation zu entfliehen. Es ist eine realpsychologische Erörterung über das Leben in engen Verhältnissen. Alles ist vorhersehbar und leicht zu durchschauen, absolut wirklichkeitstreu realistisch. Die sechste Erzählung über die Autorin und ihren Tod steht anscheinend in keinem direkten Zusammenhang mit den ersten fünf, denn es geht nicht mehr um die innerlich zerrissenen Familien in der Kleinstadt, sondern allein um die Literatur selbst.

Wie ist Literatur überhaupt möglich? Der Tod der Autorin ist auch nicht wirklich, sie kehrt ins Leben zurück, genauso wie alle Bekannten, die für tot erklärt worden waren. Der Anfang und der Schluss des Romans erklären die Wirklichkeitstreue für nichtig. Es ist eine Phantasmagorie. Man kann dem Glaubwürdigen nicht trauen. Der Roman leugnet sich selbst. Was gewöhnlich als Wirklichkeitstreue bezeichnet wird, wird in Frage gestellt.

Im sechsten Kapitel wird das geleugnet, was in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sowjetunion noch traditionell als Literatur bezeichnet wurde, nämlich eine lange Erzählung, die der Wirklichkeit entspricht. Das war für die damaligen Zeiten ein radikaler Schritt. Es ist ein Schritt in die Richtung, in der die Literatur sich selbst bewusst ist, in der eine Kategorie wie Wirklichkeitstreue keine besondere Bedeutung mehr hat. Im Roman geht es darum, wie die Autorin, Ezera selbst, den Roman schreibt: Was bleibt außen vor, was wird in den Roman aufgenommen? Was ist mit den nicht aufgeschriebenen Geschichten, nicht vollendeten Texten? Im sechsten Teil ändert sich plötzlich der Stil des Romans, der Text wird selbstironisch, witzig, paradox. Und das bei Regīna Ezera, die sonst nicht gerade durch intellektuelle Extravaganzen aufgefallen ist. Es ist ein spannender Widerspruch zwischen der sozialrealistischen Tristesse und plötzlich aufflammender Ironie und Bissigkeit, die in dem Interview zwischen dem jungen Reporter und der Schriftstellerin so meisterhaft zum Ausdruck kommen. Der Reporter versteht die Gleichnisse und bildhaften Darstellungen der Autorin nicht. Es ist nicht gerade die Welt einer vermeintlich vorbildhaften sowjetischen Autorin, die er erwartet hatte. Das Interview wird dann gar nicht gedruckt, kein Wunder. Die Autorin hat versucht, dem jungen Journalisten die Wahrheit über das Schreiben zu vermitteln, was aber klar gescheitert ist.

Der Roman „Erdbrände“ ist auch sprachlich gesehen spannend, ausdrucksstark und durch Mehrsprachigkeit bereichert. Regīna Ezeras Familiensprache der Kindheit ist Polnisch gewesen, der Bezug zum Polnischen kommt im Roman in der Gestalt von Feliks Wojciechowski zum Ausdruck, der Roman hat durch polnische, französische und deutsche Bezüge auch eine interkulturelle Dimension. Ungewöhnlich für die Zeit der sowjetischen Stagnation der 70er Jahre ist die Freiheit der Sprache und das Wagnis des Ungesagten, das im Roman spürbar ist.

In deutscher Sprache sind 1975 ihre Erzählungen „Sehnsucht nach Schnee“ erschienen und 1982 „Der Mann mit der Hundenase“, beide übersetzt von Welta Ehlert für den Verlag Volk und Welt, Der Roman „Der Brunnen“ („Aka“), übersetzt von Welta Ehlert, wurde 1986 im Aufbau Verlag in Berlin veröffentlicht. 1987 wurden „Die Schaukel und andere Erzählungen“, übersetzt von Jakob Bernstein, im Verlag Harro von Hirschheydt in Wedemark-Elze herausgegeben.

Der Roman „Der Brunnen“ wurde von Gunārs Cilinskis 1976 als „Ezera sonāte“ verfilmt.

Auf ihrem Hof in Brieži, Tome, gibt es zu ihren Ehren einen Gedenkraum.

Ilze Plaude