Ojārs Vācietis (1933–1983), Gedichtband "H-Moll", 1982

In den 50er Jahren und zu Beginn der 60er widmen sich seine Gedichte vor allem sozialen Themen. In der ersten Hälfte seines Schaffens entwickelt der Dichter eine expressive Poetik von ungewöhnlicher Intensität. Im Gedichtband „Elpa“ („Der Atem“) zeugt davon unter anderem das Gedicht „Rumbula“ (erstmals 1964 in der Zeitung „Padomju Jaunatne“ veröffentlicht), gewidmet der Gedenkstätte im Kiefernwald auf dem Territorium von Riga, in dem während des Holocaust 25 000 Juden umgebracht wurden:

„Dicht vor den Augen des Waldes geh‘ ich,
Die Wimpern der Kiefern streifen die Schulter.
Es seufzt ein weicher Erdhöcker unter dem Schritt…
Dies sind die einzigen Geräusche,

Und ich bleibe stehen,
Dass kein einziges mehr bleibt.
Und kann den Damm nicht mehr halten,
Den der Blick gebrochen.

Schreierfüllter Wald,
Schreierfüllter Wald.

Es schreien die auf den Kiefernstämmen erstarrten Schauer –
Die vor Entsetzen rau gewordene Borke.
Es schreien die über den lebendig Begrabenen aufgehäuften Hügel –
Die noch bis zum Morgengrauen sich regenden Erdhöcker.

Mein Puls hämmert
Und diesen Wald zu schlagen –

Im Namen der Birken, die übermorgen wachsen,
Im Namen der Kinder, die übermorgen kommen,
Im Namen der Lippen, die nicht schreien wollen,
Im Namen der Namen, die nicht sterben wollen.

Und dem Wald ins Angesicht
Schreie ich es selber nun:
„So einen Wald wie dich darf es heute nicht geben!“
Wie ein grüner Krater umschließt mich der Wald,
Eine grüne, zornige Stimme durchfährt mich wie ein Stromschlag:
„Du sollst nicht vor meinen Augen promenieren!
Du sollst dich nicht an meinen Wimpern ergötzen!
Du sollst dich nicht mit meinen Höckern begnügen!

Damit nicht alle Wälder der Erde so sind wie ich,
Stehe ich hier in Rumbula als ein Schrei,
Ein grünlicher Krater des Grauens zwischen den Feldern.

Ein jeder, der in mich einen Fuß gesetzt,
Wird zu meiner Zunge,
Meiner Flamme.
Sei in mir gewesen – und schrei!““

Deutsch von Mathias Knoll

Ab der Mitte der 60er Jahre richtet sich der Blick des Dichters ins Innere, in die Unendlichkeit des Bewusstseins, in die Geschichte. Anstelle der Apologie treten leise Skepsis und Ironie. Diese Wandlung der Lyrik kann als eine Bewegung von der menschlichen Erfahrung in dieser Welt zur Erfahrung des Dichters in der Poesie verstanden werden; es ist der Übergang von einer Lyrik der Ideen zu einer Lyrik der Assoziationen. Assoziative Lyrik ist unvollendet, es bleibt viel Freiraum zur Interpretation. In der Sammlung „H-Moll“ („Si minors“, 1982) zeigt sich Ojārs Vācietis als Dichter dieses freien, offenen Raums. Der ironische Blick richtet sich auf diejenigen, die im „Jammerlied“ („Gaudu ziņģe“) dem verlorenen Paradies nachtrauern, wie auch auf die, die die Zukunft prophezeien („Wenn es gäbe“ („Ja būs“)). Der Fortschritt und dessen Symbol, eine immer schneller werdende Kommunikation, bedeutet keineswegs die Verständigung mit sich selbst und mit anderen Menschen. Er bevorzugt einen historischen Blick, der im Kontrast zur Gegenwart gefangen ist.

Die Baltische See

Dies Wasser
trink nie,
doch nahe und sieh:
das Grünliche schillert,
das Bläuliche ruht,
und Schilf nicht
darinnen,
nur Schweiß von den Finnen,
den Schweden, den Letten,
und Salz aus dem Blut.

Zu Tale
in Flüssen
die Strömung
zu küssen,
so durch die Jahrhunderte
und Steinschichten eilen.

Und –
schmerzend zu heilen,
sich lieben
und hassen,
doch –
liebend, gestorben
nur hier zu verweilen.

Dies Wasser
trink nie,
doch nahe
und sieh:
das Grünliche schillert,
das Bläuliche ruht,
und Schilf nicht
darinnen,
nur Schweiß von den Finnen,
den Schweden,
den Letten,
und Salz ihres Bluts.

Nur russischer,
polnischer,
finnischer, schwedischer,
lettischer Schweiß,
und das Salz aus dem Blut.

Deutsch von Mathias Knoll

Ojārs Vācietis erreicht mit „H-Moll“ einen Höhepunkt der lettischen Dichtung, in einer Zeit, in der die lettischen Intellektuellen enttäuscht und trotzig in einer Gegenwart leben, in der es noch keine Aussicht auf eine Änderung gibt. Es gibt nur das Leben im Jetzt. Ein Weiterkommen ist in der geistigen Entwicklung möglich, selbst wenn die Botschaft nicht abgeschickt werden kann. Es ist ein Selbstgespräch mit der Unendlichkeit in sich selbst (s. z. B. das Gedicht „Am meisten“ („Visvairāk“)).

Ojārs Vācietis schrieb auch Gedichte für Kinder. 1984 wurde ein nach ihm benannter literarischer Preis gegründet. In Riga befindet sich in der Ojāra Vācieša iela 19 in seinem geliebten Āgenskalns ein ihm gewidmetes Museum.

Werke in deutscher Übersetzung:

• „Stillleben mit Schlange, Baum und Kind. Gedichte“. Nachgedichtet von Annemarie Bostroem und Heinz Kahlau. Berlin: Verlag Volk und Welt, 1979.
• Gedicht „Rumbula“ (1964). Deutsch von Mathias Knoll.
• Einzelne Gedichte in „Wunder und Wunden. Lyrik aus Lettland“, übertragen und herausgegeben von Mathias Knoll. Berlin & Riga, 1993.

Ilze Plaude