Die katholischen Messen, die traditionell im Mai an Kreuzen unter freiem Himmel gehalten werden, wurden gemeinsam mit dem im Osten von Lettland verbreiteten Totenoffizium in den lettischen Kulturkanon aufgenommen. Sie sind an Weg- und Hofkreuzen in kleineren Ortschaften in Lettgallen ein sichtbares Zeichen der Frömmigkeit und zugleich Ausdruck der Freude am Gesang sowie ein musikalisches Symbol der Zugehörigkeit zur Region Lettgallen. Die Ursprünge dieser Tradition werden in der Zeit um 1800 vermutet. Der Gesang im Freien ist ein weit verbreiteter Brauch in den Frühlingstagen.
Der Mai ist im Kalender der römisch-katholischen Kirche der Monat, in dem die Heilige Jungfrau Maria in Messen und Gebeten besonders verehrt wird. In Lettgallen und Teilen von Semgallen sind die Maimessen ebenso verbreitet wie in der übrigen katholischen Welt. Meist an Wochenenden versammeln sich Gläubige an großen Kruzifixen am Wegrand, im Dorfzentrum, auf Friedhöfen oder auf Kirchhöfen. Oft sind die Kreuze eingezäunt, um den heiligen Ort abzugrenzen, der dem Gebet dient, wo eine Kirche nicht in der Nähe liegt. In der Einzäunung lädt in der Regel eine Bank zum Verweilen ein. Die sogenannten Flurkreuze finden sich an vielen Orten in Lettgallen. Sie verbreiteten sich seit dem 17. Jahrhundert in der katholischen Welt und wurden im 18. Jahrhundert auch in Lettgallen aufgestellt. Im Mai werden die Kreuze mit Blumensträußen und Kränzen reich geschmückt. Die feierlich gekleideten Anwesenden versammeln sich dann um das Kreuz.
Von den Einheimischen werden die Messen schlicht als Singen am Kreuz bezeichnet (lettgallisch: dzīduošona pi krusta). Ein Pfarrer ist bei diesen Zusammenkünften in der Regel nicht anwesend. Zumeist sind es ältere Frauen, die die Messen lesen. Sie beherrschen die Rituale gut, kennen die Melodien der Lieder und können sie anstimmen. Im Zentrum der Messe stehen Marienlieder, in denen vom Leben und Leiden Marias sowie von ihren Verdiensten zum Wohle der Menschheit gesungen wird. Die Melodien der Lieder sind bekannt und verbreitet wie die Melodien von Volksliedern und werden bis in unsere Zeit vorwiegend im gemeinsamen Gesang überliefert. Bei jeder Messe wird die Auswahl der Lieder regional durch die Anwesenden bestimmt. Die Texte liefern Gebetsbücher.
Marianische Litaneien und Lesungen geistlicher Texte sind ebenso Bestandteil wie das Losziehen (lettisch: značku vilkšana). Die Lose tragen Nummern, die wiederum auf Aufgaben verweisen, die im Gebetsbuch im Kapitel zu den Maimessen aufgelistet und innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu erledigen sind. Diese Aufgaben können lauten, einen Monat nicht zu lügen oder anderen etwas Gutes zu tun. Sollte man eine Aufgabe nicht erfüllen, muss in verschiedener Form ein Glaubensbekenntnis abgelegt werden.
Die Marienverehrung im Mai unterscheidet sich von Messen an anderen Orten dadurch, dass sie unter freiem Himmel stattfindet, von Laien organisiert und von einer lebendigen Gemeinde weitergegeben wird. In der Sowjetzeit wurden viele Kreuze zerstört, um diese Tradition einzudämmen, sodass nur wenige Kreuze erhalten geblieben sind. Einige dieser Kreuze sind als Pilgerorte in touristischen Publikationen aufgeführt. In Riga ist es jedes Jahr möglich, sich im Ethnografischen Freilichtmuseum an Maimessen zu beteiligen.
Jens Grabowski