Die Kultur der Liven

Die Liven besiedelten ursprünglich weite Gebiete des heutigen Lettlands. Im Westen Lettlands lebten sie vom Tal der Abava bis zu den Küstenorten und Städten im Norden Kurlands. Außerdem besiedelten sie das westliche Vidzeme zwischen der Ostseeküste, der estnischen Grenze und dem See Burtnieks. Das Gebiet grenzt im Süden an den Fluss Daugava und umfasst Städte und Ortschaften wie Salacgrīva, Limbaži, Sigulda, Rīga und reicht bis nach Aizkraukle. Im Laufe der Jahrhunderte vermischten sich die Liven in gemeinsam bewohnten Grenzgebieten und in der Region an der Daugava und an der Gauja mit den benachbarten baltischen Stämmen, den Lettgallen, den Semgallen und den Kuren. In dieser Zeit bildete sich auch die Grundlage für die lettische Sprache. Im nordwestlichen Lettland, wo Mitte des 19. Jahrhunderts noch Livisch gesprochen wurde, und in den historischen Siedlungsgebieten der Liven in Kurland ist der Einfluss der livischen Sprache auf das Lettische noch heute zu hören. Im modernen Lettisch finden sich heute zahlreiche Lehnwörter aus dem Livischen, wie beispielsweise die gängigen Wörter māja (Haus), puķe (Blume) oder kaija (Möwe). Der Einfluss der livischen Sprache führte auch dazu, dass Wörter im Lettischen auf der ersten Silbe betont werden.

Dank des letzten kleinen livischen Siedlungsgebietes mit zwölf Fischerdörfern bei Kolka an der Küste Nordkurlands haben sich bis heute die traditionelle livische Kultur und Sprache erhalten. Die Küste bezeichnet man auch jetzt noch als Livische Küste (liv. Līvõd rānda). Die geografische Isolation des Küstenstreifens, der vom weiteren Festland weitgehend durch Moore und andere natürliche Barrieren abgetrennt ist, förderte den Erhalt dieser Kultur in ihrer Einzigartigkeit. Hier hat sich ein unikaler livischer Kulturraum mit der eigenen livischen Sprache und einem System livischer Gewohnheiten und Vorstellungen gebildet, in dem lettische und finno-ugrische Ideen zusammenfließen. Hier bildete sich die Grundlage für die heutige livische Kultur.

Seit dem 19. Jahrhundert werden die Sprache und die traditionellen Werte der Liven dokumentiert. Insbesondere in den 20er und 30er Jahren, entwickelte sich eine moderne livische Kultur in der Literatur, der Musik und der Kunst. Diese Entwicklung setzt sich bis heute fort, indem beständig neue kulturelle Werte geschaffen werden. So finden regelmäßig livische Lyriklesungen und Kunstausstellungen statt. Außerdem erscheinen regelmäßig Werke der Belletristik in livischer Sprache. Die derzeit aktivsten Kulturschaffenden sind die Grafikerin Baiba Damberga, die Sprachwissenschaftler Valts Ernštreits und Ķempju Kārlis, die livische Geschichtsforscherin Renāte Blumberga, die Folkloristin Julgī Stalte und die Heimatforscherin Baiba Šuvcāne.

Seit 1989 findet in Mazirbe das alljährliche Livische Fest statt, auf dem man viel über die frühere livische Kultur und ihren heutigen Einfluss erfahren kann. Hier befindet sich auch das Haus der Liven, das Besuchern offensteht. Im Jahr 2011 wurde das Jahr der Livischen Sprache und Kultur ausgerufen. Infolgedessen fanden zahlreiche livische Kulturveranstaltungen in Lettland und anderen Ländern statt. Im Jahr 2013 wurde der zwei Jahre zuvor auf Estnisch erschienene Sammelband „Die Liven. Geschichte, Sprache und Kultur“ in lettischer Sprache veröffentlicht. Seit 2006 kann man auf der Internetseite livones.net mehr über die livische Sprache und Kultur erfahren.

Jens Grabowski