Die historische Innenstadt von Riga genießt seit 1997 als Weltkulturerbe einen internationalen Schutz. Seine Singularität verdankt Riga laut UNESCO dem einzigartigen Zusammenwirken von mehreren urbanen Entwicklungen: „Die mittelalterliche und spätere städtebauliche Struktur der historischen Innenstadt von Riga sowie die weltweit einzigartige Quantität und Qualität der Jugendstilarchitektur sowie der Holzarchitektur aus dem 19. Jahrhundert machen es von außergewöhnlichem universellem Wert“. Die recht gut erhaltene mittelalterliche Altstadt (12.–21. Jh.) bildet hierbei den Kern.
Dem Lauf des ehemaligen Wehrkanals folgt ein Halbring von Boulevards mit großzügigen öffentlichen Parkanlagen und Prachtbauten (19. Jh.). Es ist eines der frühesten Beispiele solcher städtebaulichen Entwicklungen, die in zahlreichen Metropolen Europas auf den Abriss von zwischenzeitlich ihre militärische Bedeutung verlorenen Wehranlagen folgten. Der Halbring streckt sich mehrere Kilometer radial mit der prächtigen Innenstadtbebauung (19.–20. Jh.) aus, die „im weltweiten Vergleich die feinste Konzentration der Jugendstilarchitektur aufweist“ (UNESCO).
Jedoch wird der Duktus von Riga erst durch die Wirkung von rund 500 Holzgebäuden aus dem 18. und 19. Jahrhundert in der historischen Innenstadt hervorgebracht. Die vorwiegend niedrig gebauten Häuser kerben den Fassadenlauf aus und kreieren das für Riga typische, spielerisch unregelmäßige und lichte Straßenbild, zu dem die aufwendig gestalteten Details wie Fensterrahmen, Türöffnungen, Pilaster, Säulen, Fensterläden, Gesimse und Dachfenster beitragen. Die meisten dieser Häuser entstanden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Wie für den gesamten Norden Europas charakteristisch, war Holz auch in Riga ein stets beliebtes Baumaterial. Das traf sogar auf die Altstadt zu, in der bis heute noch einige Fachwerkhäuser erhalten sind. Vor allem war jedoch das Holz in den Vorstädten außerhalb der historischen Innenstadt dominant. Der Architekturhistoriker Pēteris Blūms vertritt die These, dass sich es bei Riga um eine „Metropole aus Holz, jedoch mit einem Herz aus Stein“, handele, denn noch vor knapp einem Jahrhundert zählte die Stadt rund 12 000 Gebäude aus Holz. Die Selbstverständlichkeit, mit der Holz als Baumaterial in Riga zum Einsatz kam, beweisen die großen Namen der lettischen Architektur wie Eižens Laube (1880–1967), Jānis Alksnis (1869–1939) und Aleksandrs Vanags (1873–1919). Ihren Ruhm erlangten sie mit den von ihnen entworfenen Steinhäusern, doch sie scheuten sich keinesfalls vor Aufträgen, die Häuser auch in Holz zu entwerfen. Von diesem Erbe leben noch rund 3500 hölzerne Gebäude außerhalb der historischen Innenstadt fort.
Die weitläufigen in Holz erbauten Vorstädte von Riga am rechten Ufer des Flusses Daugava wurden 1812 abgebrannt. Dies geschah auf Befehl des Deutschbalten, später in Riga beigesetzten russischen Oberbefehlshabers, Fürsten Michael Andreas Barclay de Tolly (1761–1818) angesichts eines vermuteten, dann doch nie erfolgten Angriffes der unweit bei Kaunas in Litauen stationierten napoleonischen Grande Armée bei ihrem Russlandfeldzug. Aus diesem Grund wird man bei der Suche nach älteren Exemplaren dieser architektonischen Tradition Rigas eher auf dem linken Daugava-Ufer fündig.
Auf der gegenüber der ehemaligen Zitadelle, etwas nördlicher der Altstadt liegenden Insel Ķīpsala findet man die Keimzelle des zwischenzeitlich erreichten gesellschaftlichen Konsenses über den Wert und die Bedeutung des hölzernen architektonischen Erbes in Riga. Der ehemals vergessene Ort avancierte innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit zu einer der begehrtesten Wohngegenden Rigas. Dies ist dem unerbittlichen Engagement der Architektin Zaiga Gaile (1951) zu verdanken.
Beim Bau ihres Familienhauses (Gaiļu māja, 1996–1997, Balasta dambis 66a in Riga) schuf Gaile zur Jahrtausendwende einen archetypischen Zwitter aus einem traditionellen Gehöft der vorindustriellen Ära und einer urbanen Residenz. Ursprünglich stand dort ein Kapitänshaus aus Holz. Sein Replikat ist nun in ein Mauerwerk eingebunden, das paradigmatisch die uralten Regeln der lettischen ländlichen Bauweise befolgt, indem es Rücksicht auf den Verlauf von Wasseradern und der Sonne sowie auf die Himmelsrichtungen und die vorherrschenden Winde nimmt. Mit einer solchen Vorgehensweise lehnte Gaile gegen die tonangebende Profitsucht des noch jungen Kapitalismus auf.
Dem Einsatz von Zaiga Gaile kann man die Rettung zahlreicher Holzgebäude verdanken. Die zehn Gebäude in ihrer Nachbarschaft auf der Insel Ķīpsala bezeichnet Gaile nicht zu Unrecht als ihre „Holzhaussammlung“. Sie sanierte auf der Insel insgesamt acht Häuser, zu denen sie zwei weitere vom Abriss bedrohte Häuser aus der Innenstadt verlegte (2. H. 17. Jh., ehem. A. Briāna iela 11, jetzt Ogļu iela 8, und M. 18. Jh., ehem. Baznīcas iela 18, jetzt Balasta dambis 60 in Riga). Gaile verhalf aber auch vielen Holzhäusern in der Innenstadt zum neuen Leben. Exemplarisch dafür sind die beiden Holzhäuser im von Zaiga Gaile wiederaufgebauten Innenstadtviertel „Berga bazārs“ (1998–2000, 2019–2020; zwischen den Straßen A. Čaka iela, Dzirnavu iela, Kr. Barona iela und Elizabetes iela). Im gleichen Maße trifft es auch auf das größte eingeschossige Holzgebäude (L: 40 Meter, T: 12 Meter) im Zentrum Rigas, das 1820 als Katharinen-Schule erbaut wurde und bis heute ununterbrochen als Schulgebäude (jetzt Design- und Kunstschule Riga, 2013, Lāčplēša iela 55 in Riga) betrieben wird.
Beidseitig von Melnsila iela (Abschnitt zwischen Melnsila iela und Slokas iela) ist seit 2002 ein weiteres lebendiges Zentrum der Holzarchitektur von Riga entstanden. Das für europäische Großstädte einzigartige Ensemble aus 23 klassizistischen Holzhäusern wird schrittweise saniert. Diese Entwicklung leitete die Bürgerinitiative „Latvia Nostra“ ein, die die Leitlinien für die Fassadengestaltung und den Umgang mit den zahlreichen erhaltenen Details in Zusammenarbeit mit staatlichen und kommunalen Behörden aufstellte. Besonderer Beliebtheit erfreut sich der hier staatfindende Wochenmarkt.
In Mūrnieku iela, die im ehemaligen Arbeiterviertel Grīziņkalns liegt, findet man einen weiteren sehr gut erhaltenen Holzgebäudekomplex aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der seit 2003 durch kommunale Revitalisierungsmaßnahmen gefördert wird. Ganze acht von den insgesamt elf die kleine Straße fassenden Häusern sind aus Holz. Eine weitere Unterstützung für Immobilieneigentümer, Bauherren und Mieter bietet die Stadt Riga mit einer besonderen 2013 ins Leben gerufenen Beratungsstelle „Koka Rīga“ (dt.: „Riga aus Holz“), die auch eine Dauerausstellung beherbergt (Krāsotāju iela 12 in Riga).
Roberts Putnis