„White Bells“ („Baltie zvani“) ist ein 24-minütiger Kurzfilm, eines der bedeutendsten Werke des lettischen Autorenkinos, der den Anfang der Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms markiert. Durch krasse Gegensätze und scharfe Kontraste vereint der Film Elemente des Dokumentarfilms und des Spielfilms und kreiert auf diese Art und Weise eine herausragende Legierung zwischen der lebhaften Realität und der filmischen Stilistik. Dieser Film legt auch ein Zeugnis über Riga am Anfang der 60er Jahre ab.
Der Film wurde mithilfe von Schauspielelementen inszeniert. Er handelt von Riga in den 60gern, wobei die Stadt als Hintergrund der Geschichte dient, in der ein kleines Mädchen im Laufe des Vormittags ein großes Abenteuer erlebt. Sie bleibt hinter ihren Freunden zurück, die Altmetall sammeln, streift durch die Menschenmenge der Großstadt und überwindet Hindernisse industrieller Art nur um eines zu finden – die weißen Glockenblumen, die sie in einem Schaufenster gesehen hatte.
Der Film „White Bells“ hat zwei Hauptfiguren: Riga am Morgen und das kleine Mädchen (gespielt von Ilze Zariņa) im weißen Kleid, das auf der Suche nach den weißen Blumen den Zuschauern die Straßen, die Schaufenster und die Menschen der Großstadt zeigt. Der Film fängt mit den Panoramaaufnahmen von Riga an, mit dem leisen Erwachen der Stadt, die, als die Handlung voranschreitet, immer hektischer, lauter und überfüllter wird. Das Mädchen erscheint ab und zu in der Einstellung, als ob per Zufall, und wirkt damit wie ein heller Fleck auf dem dunkelgrauen Asphalt. Ihre Gegenspieler und Hindernisse sind Passanten, Bauarbeiter und verschiedene Monster der urbanen Landschaft – Asphaltroller, LKWs und unendliche Bauarbeiten, die ein homogenes visuell-auditives Ensemble erzeugen.
Der Film verfolgt nicht die Tendenz seiner Zeit das Abbild der Realität zu verbessern oder zu verschönern, sondern hält die Stadt als einen lebendigen Organismus dokumentarisch fest. Die Handlung findet um den Rigaer Zentralmarkt statt. Neben Aufnahmen aus extremer Obersicht sieht man sowohl die Rigaer Architektur, als auch die Einwohner der Stadt, die unterschiedliche Berufe und soziale Schichten präsentieren. In der Zeit, wo auf jeder Ebene des sowjetischen Lebens inklusive Film immer das Kollektive großen Maßstabs, das sozial Optimistische und Beachtenswerte betont wurde, sehen wir in diesem Film das Menschliche und Intime, das aus der Kindessicht anhand von Handlungssteigerung, emotionalen Höhepunkten und poetischen Beobachtungen arrangiert wird. „White Bells“ ist eine Hymne auf die Stadt und auf den Menschen. Deshalb gehört dieser Film zu den Stadtsinfonien wie „Berlin- die Sinfonie der Großstadt“ (1927) von Walther Ruttmann (1887–1941) und „Der Mann mit der Kamera“ (1929) von Dziga Vertov (1896–1954), wobei den Machern von „White Bells“ vor allem die Forderung von Vertov das Leben so zu filmen, wie es ist, von Bedeutung war.
Auch wenn man den Film „White Bells“ von Ivars Kraulītis (1937–2004) zu den Dokumentarfilmen zählt, ist er gleichzeitig auch ein Spielfilm. Die offensichtliche Inszenierung mit gründlich überlegten und einstudierten Bewegungschoreographien des kleinen Mädchens ist der Verdienst nicht nur des Drehbuchautors Herz Frank, sondern auch des Kameramanns Uldis Brauns (1932–2017), dessen Handschrift und Mise en Scène es erlaubt, dass das Gefilmte auf der Leinwand möglichst glaubhaft und künstlerisch ausdrucksvoll wirkt. In diesem Film begegnet man zum ersten Mal der kreativen Handschrift der späteren Eminenz des lettischen und des internationalen Dokumentarfilms Herz Frank, weil „White Bells“ sein erster Film war (hier noch in der Funktion des Drehbuchautors). Seine Fähigkeit im Film die Seele des Menschen zu widerspiegeln erreichte seinen Höhepunkt im Kultfilm „Ten Minutes Older“ (1978), der auch zum Filmkanon gehört.
„White Bells“ hat renommierte Filmpreise bekommen, u.a., beim Filmfestival San Francisco in 1962 und beim Kurzfilmfestival in Oberhausen 1963. 1995 haben die Filmkritiker auf die Einladung des Internationalen Kurzfilmfestivals Clermont-Ferrand eine Liste der 100 besten Kurzfilme der Welt erstellt, und auch „White Bells“ ist darin enthalten.
Adaptiert ins Deutsche von Elīna Reitere nach einem Text von Olga Doļina
Der Film kann HIER gesichtet werden (mit englischen Untertiteln).