Beispielhafte Leistung des lettischen Industriedesigns der sowjetischen Besatzungsperiode stellt das Mofa „Rīga-12“ dar. Es gilt als Symbol der Einzigartigkeit des lettischen industriellen Designs der Moto-Technik der 70er Jahre. Dieses von dem bekanntesten Vertreter des lettischen industriellen Designs Gunārs Glūdiņš (1938–2020) konzipierte und von der Firma „Sarkanā Zvaigzne“ (dt.: „Roter Stern“) serienproduzierte Fahrzeug erfreute sich über Jahrzehnte breiter Beliebtheit bei der Bevölkerung der ganzen Sowjetunion.
Erst mit der Einführung von „Rīga-12“ hob „Sarkanā Zvaigzne“ das Produktdesign auf eine der technischen Ausstattung gleichwertige Rolle bei der Herstellung von Mofas und Minimofas, denn die zwischen 1964 und 1974 produzierten Fahrzeuge waren vorrangig funktional konstruiert. Die Verwendung von Leichtmetallkonstruktionen war eine technische Novität des neuen Modells, die sich auch im Fahrzeugdesign widerspiegelte. So erhielt der neue Leichtmetallrahmen einen kräftig-roten Anstrich, was einen eklatanten Kontrast mit den in Weiß gehaltenen Schutzblechen und dem gleichfarbigen Treibstofftank schuf. Der Chrom-Auspuff war im Zusammenspiel mit weiteren in Chrom gehaltenen Teilen eine entscheidende komplementäre Komponente, die für die edel einzigartige Wirkung von „Rīga-12“ bei ihren zahlreichen Liebhabern sorgte. Das tat ebenfalls die ansehnliche Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern und eine weitere technische Erneuerung wie die eingesetzten Papierluftfilter.
Wie häufig bei den Industrieprodukten der Sowjetunion gab es auch für „Rīga-12“ eine aparte Exportanfertigung mit einer vorteilhafteren Positionierung sowohl des Treibstofftanks als auch des Auspuffs mit Geräuschdämmung als erwünschter Folge.
Die späteren Modellmodifikationen (wie „Rīga-14“ und „Rīga-16“) wurden mit potenteren Motoren und leistungsstärkeren Elektroanlagen optimiert. Einen weiteren Fortschritt bei den Nachfolgemodellen von „Rīga-12“ bedeutete der Einsatz von Kickstarter anstelle der früher verwendeten Tretkurbeln mit Pedalen über Fußrasten. Doch die gesamte Palette an Nachfolgemodellen entfernte sich kaum von dem ursprünglichen Designkonzept des „Rīga-12“.
Der zwischenzeitliche Klassiker „Rīga-12“ ist kaum mehr im Straßenbild vertreten. Es ist ein begehrtes Sammlerobjekt in der Szene der Liebhaber sowjetischer Mototechnik. Nicht zuletzt verdankt dieses Fahrzeug seine Bekanntheit dem beliebten Kinofilm „Das Geschenk an die einsame Dame“ (lett.: „Dāvana vientuļai sievietei“) des Regisseurs Ēriks Lācis (1973). Die Hauptfiguren fahren „Rīga-12“ und die Gestaltung einer Werbung für dieses Mofa wird in einer Szene sogar zum Handlungsgegenstand.
Dieses besondere Stück der lettischen Industriedesigngeschichte kann heute in der ständigen Ausstellung des Motorenmuseums Riga betrachtet werden.
Das Design von „Rīga-12“ gehört zu einer der herausragenden Leistungen des lettischen Industriedesigners Gunārs Glūdiņš. Seine erste Berufsausbildung erhielt er am Industrie-Polytechnikum Riga mit dem Abschluss als Planungsfachkraft für kleine und mittlere Unternehmen. Doch seine liebste Freizeitbeschäftigung war Zeichnen und Malerei. Gunārs Glūdiņš ging diesem Hobby engagiert nach und war ein aktives Mitglied des Studios für das bildnerische Volksschaffen am Kulturpalast der Gewerkschaften in Riga, unter der Leitung des Aquarellisten und Kunstpädagogen Eduards Jurķelis (1910–1978). Dem Anraten seines Pädagogen folgend fand Glūdiņš den Weg zur Kunstakademie Riga, an der er im gerade neugegründeten Studiengang für künstlerische Metallverarbeitung 1964 sein Studium aufnahm. Bereits während seines Studiums übernahm er Assistenzstellen an seinem Lehrstuhl, den er später als langjähriger Hochschullehrer maßgeblich prägte.
Glūdiņš verschaffte sich prompt einen Namen als Industriedesigner. Er absolvierte sein Studium mit dem Design für das Rennmotorrad „Rīga-9S“ als seiner Abschlussarbeit, betreut vom Architekten Ivars Bumbieris (1932). Dieses für Rennen auf befestigten Rundstrecken geschaffene Rennsportfahrzeug gilt bis heute als eines der herausragendsten Designklassiker seiner Art.
Nach dem Studienabschluss führte die Berufslaufbahn Gunārs Glūdiņš im Jahr 1969 zur Firma „Sarkanā Zvaigzne“, wo er gleich die Designleitung des ganzen Hauses übernahm. Damit prägte seine Hand die meisten Designs von Mofas, Mopeds und Sonderanfertigungen von Rennrädern der Firma. Sein Wirken weitete sich jedoch auch auf andere Unternehmen aus. Das erste sowjetische serienproduzierte Transistorradio „Spīdola“ (1971) und das Telefongerät „VEF – Elta“ (1982) sind weitere herausragende Beispiele seines Schaffens. Glūdiņš beeinflusste bedeutsam die Designs von zahlreichen industriellen Produktkonzepten. Zu seinem Nachlass gehört sogar eine ganze Fließbandproduktionsanlage für Milchsüßspeisen. Weitere bezeichnenden Beispiele seines Schaffens sind das in Co-Autorenschaft mit Jānis Kārkliņš (1949) in den 80er Jahren konzipiere Produktdesign eines Miniautos sowie das im gleichen Zusammenwirken ein Jahrzehnt später entworfene Konzept eines Dreiradlastenmofas.
Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands prägte Gunārs Glūdiņš über zwei Jahrzehnte lang das Straßenbild Lettlands in Gestalt von Beschriftungen und Markierungen an sämtlichen Polizeifahrzeugen. Sein Design aus dem Jahr 1992 wurde erst neulich durch die lettische Polizei im Zusammenwirken mit den Studierenden der lettischen Kunstakademie neugestaltet. Sein Engagement für Design setzte Gunārs Glūdiņš auch ehrenamtlich fort. So gehört er zum Gründerkreis des lettischen Designerverbandes.
Die Produktionsstätte von „Rīga-12“ – das Unternehmen „Sarkanā Zvaigzne“ – ist beispielhaft für industrielle Entwicklung Lettlands während der sowjetischen Besatzung. Die Firma wurde im Jahr 1963 gegründet und avancierte mit jährlich über hunderttausend serienproduzierten Motofahrzeugen rasant zu einem der größten mototechnischen Unternehmen der Sowjetunion. Die Ursprünge der Firma gehen jedoch auf den seit 1927 bestandenen Fahrradhersteller „Gustavs Ērenpreiss“ zurück. Vor der Enteignung im ersten Jahr der sowjetischen Besatzung 1940 war es die größte Fahrradproduktionsstätte in den baltischen Staaten. Die noch bis in den Neunzigern verwendeten Fahrräder der Marke „Ērenpreiss“ verkörperten für viele sinnbildlich die Qualität und Leistung der lettischen Industrie der Unabhängigkeitsperiode vor der sowjetischen Besatzung. Die Nachfahren der ins Exil vertriebenen Familie Ērenpreiss betreiben nun wieder unter dieser Traditionsmarke eine Fahrradmanufaktur in Riga.
Die technischen Mängel waren bezeichnend für die gesamte Industrie der UdSSR und „Sarkanā Zvaigzne“ war hierbei keine Ausnahme. Die Firma betrieb selbst keine Motorenherstellung. Die Motoren des in Litauen befindlichen Zulieferers galten jedoch als eine der größten Schwachstellen bei deren Motofahrzeugen. Die Motorenprobleme ergänzten lediglich die bereits lange Liste anderer Defekte. Da jedoch die Gesamtproduktion von Motofahrzeugen wie bei den meisten Industrieerzeugnissen dauerhaft unter dem tatsächlichen Marktbedarf lag, kam es kaum zu technischen Nachbesserungen, denn sämtliche Fahrzeuge konnten trotz ihrer allbekannten Qualitätsproblemen unverzüglich vollständig abgesetzt werden.
Roberts Putnis