Der gewobene Wickelgürtel von Lielvārde (lett. Lielvārdes josta) ist ein einzigartiges Kulturgut und Zeugnis lettischer Webkunst. Er ist im Wesentlichen aus den Farben Rot und Weiß gewoben und mit mythischen Ornamenten verziert, die sich auf der Länge des Gürtels nicht wiederholen. Der Gürtel, der ursprünglich aus der Stadt Lielvārde stammt, wird zu lettischen Folkloretrachten getragen, soll den Träger schützen und ihm Kraft verleihen. Der Lielvārdes josta ist 10 cm breit und kann bis zu 3 Meter lang sein. Er war zunächst nur in der Gegend um Lielvārde verbreitet, wurde aber mit seiner zunehmenden Popularisierung insbesondere in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem in ganz Lettland verwendeten Symbol.
Einzelne geometrische Ornamente des Gürtels finden sich auch auf archäologischen Funden an anderen Orten Europas und in anderen Teilen der Welt. Diese Symbole reichen bis in die Steinzeit zurück. Neben den in anderen Regionen Lettlands getragenen Gürteln hebt sich der Lielvārdes josta durch seine vielfältigen Muster, die ihm nachgesagten mythischen Kräfte und den, wie man sagt, in den Mustern enthaltenen kosmischen Code hervor. Der estnische Grafiker und Kunsttheoretiker Tõnis Vint erkannte in den Formen Ähnlichkeiten zu folkloristischen Piktogrammen aus dem asiatischen Raum und leitete daraus ab, dass der Gürtel ein Erbe der Vorfahren als verschlüsselte Information enthält.
Die Kombination roter und weißer Farbe wird in der lettischen Symbolik häufig zum Schutz verwendet und mit den lettischen Gottheiten Mara, Dievs, verschiedenen Kreuzen und Sonnenzeichen assoziiert. Sie findet sich bereits in alten heidnischen Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln wieder. Über den Lielvārdes josta sagt man, dass die Reihenfolge der Muster einer Tradition folgen muss, damit die Energie frei fließen kann. Dabei kann jeder Träger ein besonderes Symbol zu seinem Schutz auswählen. Man wählt es, indem man über den Gürtel streicht. Dort, wo man Wärme empfindet, befindet sich das eigene Ornament.
Man kann die Ornamente des Gürtels unterschiedlich lesen: als Entstehungsprozess der Welt, als meditatives System oder als heidnisches Schutzsystem mit einer Fülle an damit verbundenen Traditionen. Nichts davon ist endgültig festgelegt. Es hängt davon ab, was wir selbst in ihm sehen und erkennen wollen. Der Lielvārdes josta hebt sich gegenüber anderen Wickelgürteln nicht durch seine handwerkliche Ausführung, die Ornamente oder Farben ab, sondern eben durch seine symbolische Aufladung.
Der Gürtel wurde nachweislich im Jahr 1896 das erste Mal in Riga ausgestellt und in den 1920er Jahren in der Fachliteratur erwähnt. Seine heutige Bedeutung liegt darin begründet, dass er nicht nur ein Symbol einer vergangenen Zeit ist, sondern vielmehr ein Stück lebendiges Kulturgut darstellt. In ihm vereint sich die Bedeutung historischer geometrischer Ornamente mit der Schaffung moderner Mythen. Traditionell war der Lielvārdes josta ein Teil der Volkstrachten für Männer und Frauen.
Der Dokumentarfilm Lielvārdes josta von Ansis Epners aus dem Jahr 1980 führte zu einer neuen symbolischen Aufladung und Verbreitung des Gürtels. Insbesondere auf dem Weg zur wiedererlangten Unabhängigkeit wurde Vieles in die Symbolik des Gürtels hineininterpretiert, womit dieser zu einem Träger auch neuer Mythen und zu einem starken Antrieb für die Unabhängigkeitsbewegung in Lettland wurde. Diese Kraft ist bis heute erhalten geblieben.
Die Elemente des Gürtels werden auch heute noch auf den Tanzveranstaltungen des Lettischen Liederfestes verwendet. Sie finden sich in einer Arbeit der Kunstschule Rūjiena in Holz geschnitzt wieder und werden für moderne Schals, Mützen und andere Kleidungsstücke verwendet. Es werden sogar schützende Tätowierungen mit seiner Symbolik angeboten. Ein Element des Lielvārdes josta fand sich auch auf der 100 Lats-Note wieder und wird bis heute in den lettischen Reisepässen verwendet. Ein über 13 Meter langes Exemplar der Kunsthandwerkerin Aina Kleinhofa findet sich im Imants Ziedonis Museum. Der Gürtel ist auch heute noch ein lebendiger Teil des kulturellen Erbes Lettlands. Der Mythos lebt weiter.
Jens Grabowski