Egons Spuris hat mit seinen in den 70er und 80er Jahren aufgenommenen Schwarz-Weiß-Fotos des Zyklus „Rigaer Arbeiterviertel, Ende des 19., Anfang des 20. Jh.“ (Rīgas proletāriešu rajoni, 19. gs. beigas, 20. gs. sākums) das herausragendste Beispiel der lettischen Fotokunst geschaffen, das sowohl die Moderne in der Fotografie repräsentiert, als auch die Realität des sowjetisch geprägten Lebens in den Arbeitervierteln von Riga zeigt. Die Fotografien von Spuris haben die lettische und baltische Fotokunst sehr stark beeinflusst. Dank Egons Spuris hat die lettische Fotokunst den Weg zurück in die internationale Künstlergemeinschaft gefunden, seine Werke wurden in vielen Ländern veröffentlicht.
Der Zyklus besteht aus mehreren Hunderten Fotos und mehr als 7500 Negativen. Thematisch zeichnet er sich durch eine große Bandbreite an Motiven aus. Es werden Brandmauern von mehrstöckigen Häusern, beschädigte Hauswände, Schornsteine verschiedener Art, Hauseingänge, leere Innenhöfe, Lichterscheinungen in verschiedenen Jahreszeiten gezeigt. Der Kunsthistoriker Vilnis Vējš weist darauf hin, dass in den Fotos sehr häufig der Eingangsbereich des Hauses oder der Innenhof gezeigt wird. Diese Räume zeigen das wirkliche Leben ohne jegliche Verschönerung und ohne Ideologie, die häufig durch die Fassade repräsentiert wird.
Jedes Foto verinnerlicht eine Empfindung, die man nicht immer in Worten beschreiben kann. Spuris sieht etwas Surreales oder Lyrisches in scheinbar einfachen Erscheinungen, er sieht etwas Besonderes außerhalb des Alltäglichen. Spuris zeigt Ästhetisches dort, wo andere nie danach suchen würden.
Mehrere Fotos des Zyklus kann man als subjektiv dokumentarisch bezeichnen. Der Mensch ist immer nur ein Teil des Ganzen, er steht niemals im Zentrum. Die Kunstwissenschaftlerin Laima Slava schreibt, dass Spuris nicht das Leben der Menschen darstellen wollte, sondern eher die Empfindungen und Gefühle, die in diesen Lebensräumen entstehen.
Nur in den Arbeitervierteln gab es in Riga Häuser, deren Einwohner zu Beginn der Sowjetzeit nicht umziehen mussten. In die größeren Wohnungen der Stadtmitte und in die neuen Wohnblöcke am Rand der Stadt sind viele Zuwanderer aus Russland eingezogen, während in den Proletarierhäusern die Bewohner weiter lebten. Nur das Leben in der Stadt hat sich geändert, es herrschten andere Gesetze, eine neue, sowjetisch geprägte Wirklichkeit. Spuris hat möglicherweise für seine Fotografien die Bezeichnung Proletarierstadtteile gewählt, um der herrschenden Ideologie zu widersprechen. In seinen Arbeiten sieht man keine glücklichen Arbeiter der Sowjetzeit, die ein harmonisches, zufriedenes Leben führen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es in der bildenden Kunst nicht beliebt, das Leben in den ärmeren Stadtteilen zu zeigen. Egons Spuris war der erste Künstler, der sich zielbewusst der Darstellung der Arbeiterstadtteile zuwandte. Er lebte selbst in einem solchen Stadtteil zwischen Bruņinieku-, Čaka- und Avotu- Straße. In einem gewissen Sinne sind diese Fotos auch sein Selbstporträt.
Egon Spuris arbeitete mit Weitwinkelkameras, benutzte die Methoden der Solarisation und der Fotomontage. Die Klarheit erreichte er mit lakonischen Kompositionen, in der man nichts Überflüssiges findet. Die Arbeiten von Spuris zeichnen sich durch starke Kontraste und grafisch ausdrucksvolle Bildprache aus.
Spuris arbeitete in einer Zeit, als die Fotografie noch keinen anerkannten Status in der Kunst der Sowjetunion hatte. Eine große Bedeutung hatte die Gründung des Fotoklubs „Riga“ 1962. Der Klub diente als ein Forum für innovative Ideen, er wurde als Organisation von Amateurfotografen nicht so stark ideologisch kontrolliert. Es wurden verschiedene Stilrichtungen und Methoden ausprobiert, die Fotokunst entwickelte sich in Richtung Abstraktion und Symbolik.
Egons Spuris studierte an der Technischen Hochschule in Riga, wurde Ingenieur. Aufgrund seines technischen Könnens konnte er sich schnell zu einem professionellen Fotografen entwickeln. Zuerst war er im Rigaer Fotoklub tätig, wechselte 1975 in den berühmten Fotoklub von Ogre (Lettland), den er bis zu seinem Tod 1989 leitete. Er motivierte seine Kollegen und Schüler, sich der dokumentarischen Fotografie zuzuwenden. Spuris war auch Lehrer anderer berühmter lettischer Fotografen wie Andrejs Grants und Inta Ruka.
Die Fotografien von Egons Spuris wurden in mehr als 350 Ausstellungen in 48 Ländern ausgestellt. Er wurde 1971 als erster Fotograf der Sowjetunion mit der Goldmedaille der Internationalen Föderation der Fotokunst (Féderation Internationale de l’Art Photographique (FIAP)) ausgezeichnet. 1972 wurde er als Kunstfotograf Ehrenmitglied der FIAP.
Die Fotos des Zyklus „Rigaer Arbeiterviertel, Ende des 19., Anfang des 20. Jh.“ befinden sich im Lettischen Nationalmuseum der Künste und in der Privatsammlung von Inta Ruka.
Ilze Plaude