Der Spielfilm „Apple in the River“ („Ābols upē“, 1974) vom Regisseur Aivars Freimanis und Kameramann Dāvis Sīmanis Sr. (1942–2007) ist ein für seine Zeit und für den lettischen Film sehr ungewöhnliches Projekt. Der Film ist vor Ort auf der Insel Zaķusala mitten in Riga gedreht worden, mit dem Einsatz dokumentarischer Filmstilistik, aber aufgrund der Verwendung von Schauspielern und einer fiktiven Geschichte gilt er als Spielfilm. „Apple in the River“ ist das filmische Portrait des Alltagslebens und die Fixierung des Rigaer Stadtbildes, das inzwischen verschwunden ist.
Es gibt Riga – diese moderne, pulsierende Großstadt, wo neue Stadtteile und mehrstöckige Wohnhäuser gebaut worden sind. Und es gibt die kleinen Inseln auf dem Fluss Daugava, der durch Riga hindurchfließt, wo das Leben scheinbar nach ganz anderen zeitlichen und alltäglichen Gesetzen verläuft. Die Idylle von Zaķusala, die von der Industrialisierung bisher verschont geblieben ist, wird aber nicht mehr lange halten – es ist geplant durch die Schrebergärten von Zaķusala eine neue Brücke zu bauen. Die Einwohner von Zaķusala werden in ein anderes Stadtteil von Riga umgesiedelt, die Fähre, die jeden Tag die Inselbewohner zur Arbeit in die Stadt bringt, wird bald geschlossen. Hier treffen sich die beiden Haupthelden des Films, die zwei Gegensätze symbolisieren: der attraktive Jancis (gespielt von Ivars Kalniņš) und die zurückhaltende Anita (Akvelīna Līvmane). Er ist Arbeiter in den Docks und Musiker, sie – Studentin. Die Geschichte fängt mit dem ersten Treffen der beiden an einem Sommerabend an und endet an einem Wintermorgen, als beide wieder auseinandergehen.
Der Regisseur Aivars Freimanis hat betont, dass der Film kein klassisches Drehbuch hatte, auch kein Dialog des Films war gescripted. Beide Schauspieler haben nur das Thema der Episode erfahren oder bekamen kleine Aufgaben. Sie mussten nicht spielen, sondern ein junges Paar dieser bestimmten Zeit sein. Schauspieler mussten an Ort und Stelle improvisieren und der Kameramann Sīmanis hat das gedreht. Wie Līvmane sich erinnert, fanden die Dreharbeiten in einer sehr dezenten Atmosphäre statt. Es gab weder Maske, noch Frisör am Set. Als Kostüme haben die Schauspieler ihre eigene Kleidung getragen – auch diese besitzt hier die Funktion des Zeugen über eine bestimmte Epoche der Mode.
„Apple in the River“ ist ein filmisches Experiment von zwei gleich bedeutenden Künstlern und Co-Autoren: der Regisseur Freimanis und der Kameramann Sīmanis haben zusammen den Zauber von Zaķusala eingefangen, der im Verschwinden begriffen ist. Wie Freimanis sich erinnert, hatten sie für die Dreharbeiten gar kein Team, sondern haben nur zu zweit gearbeitet. Gedreht wurde mit der Handkamera, sie haben viel Zeit in lange Beobachtungen investiert und die vom Leben angebotenen Zustände und Situation auf dem Film festgehalten.
Für die Einwohner von Zaķusala waren die Dreharbeiten ein großes Ereignis. Sie haben aktiv am Film mitgearbeitet und ließen sich den Film in ihr Leben integrieren. Viel wurde aber auch mit der versteckten Kamera und mit Teleobjektiven gedreht. Aber erst als es sich herausstellte, dass die gedrehte Sammlung an poetischen Etüden nicht ausreicht, um eine Geschichte zu erzählen, haben die Macher des Films entschieden zwei junge und bis dahin unbekannte Schauspieler in die dokumentarische Umgebung zu integrieren. Wie der Regisseur betonte, im eintönigen Leben der Insel fehlten die dramaturgischen Wendungen und äußerlich interessante Ereignisse, deshalb mussten die Autoren des Films diese selber generieren. Auch, wenn die sehr realistische Spielweise der beiden Schauspieler es erlaubt hat, eine sehr untypisch offene und für den damaligen lettischen Film ungewöhnliche Sexepisode zu drehen, stimmte der Film durch den Einsatz von Schauspielern zu seinem Ende hin immer melodramatischere Töne ein. Diese wurden noch mehr unterstrichen durch die Verwendung der Off-Stimme des legendären Filmsprechers Boriss Podnieks (1925–1995). Seine gesellig-ironischen, oft humorvollen oder sogar stechenden Kommentare wirken nicht nur als Hinweis auf das Pathos seiner Zeit, sondern generieren auch eine Distanz zu dem Gezeigten.
Aivars Freimanis hat am Anfang seiner Karriere als Journalist gearbeitet, hat dann die Texte für die Filmchroniken geschrieben und in den 60er Jahren als Drehbuchautor und Regisseur von Kurzfilmen bei der sogenannten Rigaer Schule des poetischen Dokumentarfilms mitgewirkt. „Apple in the River“ ist eine gelungene Übertragung seiner Erfahrung im Dokumentarfilm auf das Feld des Spielfilms. Eine nicht weniger bedeutende künstlerische Errungenschaft ist auch die zweite Zusammenarbeit von Freimanis und Sīmanis – der Spielfilm „Boy“ („Puika“, 1977).
Adaptiert ins Deutsche von Elīna Reitere nach einem Text von Olga Doļina
Der Film kann HIER gesichtet werden (mit englischen Untertiteln).